„One of the most salient features of our culture is that there is so much bullshit” (Frankfurt 2005, S.1). So beginnt der Essay On Bullshit des Gegenwartsphilosophen Harry G. Frankfurt. Warum beschäftigt sich ein Philosoph mit Bullshit?
Was sich zunächst nach einem Thema anhört, das eher für einen Kommentar in einer Tageszeitung geeignet wäre, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als philosophische und gesellschaftliche Herausforderung.
Die wichtigsten Punkte:
- Obwohl Bullshit ein häufig gebrauchter Begriff ist (wer das nicht glaubt, kann in der Netflixserie Suits einfach die ersten drei Folgen anschauen und die Häufigkeit des Vorkommens von ‚Bullshit‘ zählen), fehlt ein grundlegendes Verständnis des Begriffs.
- ‚Bullshit‘ muss abgegrenzt werden von ‚Lügen‘. Lügner*innen treffen bewusst falsche Aussagen über den Gegenstand, über den sie sprechen und über ihren eigenen Bewusstseinszustand. Bullshitter treffen hingegen nur bewusst falsche Aussagen über ihren Bewusstseinszustand. Der eigentliche Gegenstand der Rede interessiert sie dabei gar nicht.
- Als ‚Bullshit‘ werden daher Aussagen bezeichnet, bei denen es die Aussagenden überhaupt nicht interessiert, ob sie Wahr- oder Falschheiten aussagen. Wichtig ist nur, bei anderen ein bestimmtes Bild hervorzurufen.
Was war Bullshit vor Frankfurt?
Frankfurt beschäftigt im Kern die Frage was Bullshit genau sei, denn obwohl viel Bullshit produziert wird, hatte vor seinem Essay ein theoretisches Konzept davon gefehlt. In seinem Essay möchte er zunächst eine allgemeinere Begriffsklärung von ‚Bullshit‘ vornehmen.
Dazu zieht er die Definition des ‚Humbugs‘ von Max Black heran, die er an einigen Stellen kommentiert. Frankfurt nennt Blacks Definition von Humbug als „deceptive misrepresentation, short of lying, especially by pretentious word or deed, of somebody’s own thoughts, feelings, or attitudes” (Max Black, zit. nach Frankfurt 2005, S. 6). Aus der ‘deceptive misrepresentation‘ folgt, dass Grundlage für Humbug ein gewisser Bewusstseinszustand sein muss, der einen Willen zur Täuschung anderer beinhaltet. Dies ist nach Frankfurt eine notwendige Bedingung für Humbug.
„[S]hort of lying, especially by pretentious word or deed” (ebd.) meint nach Frankfurt, dass es einen später noch zu definierenden Unterschied zwischen einer Lüge und Humbug gebe und dass ein prahlender Charakter zwar oft zum Humbug dazugehöre, aber keine notwendige Bedingung dafür sei. Der Unterschied zwischen Lüge und Humbug wird im nächsten Teil der Definition gefunden: „Misrepresentation… of somebody’s own thoughts, feelings, or attitudes“ (ebd. S.12).
Während der Lügner eine zweifache Falschdarstellung präsentiert, einmal über den Gegenstand, über den er spricht und einmal über den eigenen Bewusstseinszustand, will derjenige, der Humbug aussagt, nur über seinen Bewusstseinszustand täuschen. Der eigentliche Gegenstand seiner Aussage interessiert dabei nicht, es geht darum, bei den Zuhörenden einen falschen Eindruck über ihn selbst hervorzurufen. Damit handelt es sich eher um ‚impression-making‘ als um Lügen (vgl. S. 17f). Diese Eigenheiten des Humbugs hält Frankfurt auch für die Beschreibung des Bullshits für angemessen. Allerdings sind sie noch nicht ausreichend.
Um den „essential character of bullshit“ (S.18) weiter zu ergründen, orientiert er sich im weiteren Verlauf an Ludwig Wittgenstein. Anhand dessen Aussagen zu Wahrheit und Nonsens macht Frankfurt klar, dass Bullshit immer durch eine Art Nachlässigkeit gekennzeichnet ist. Der zweite Teil des Wortes Bullshit impliziert dies ebenfalls, denn shit „is merely emitted, or dumped“ (S.21f). Diese Nachlässigkeit ist dabei keine Nachlässigkeit im Sinne des sprachlichen Aufbaus einer Aussage – es kann sogar das Gegenteil der Fall sein, wie am Beispiel von Werbung klar wird, bei der jedes einzelne Wort mitunter handverlesen ausgewählt wird – sondern eine Nachlässigkeit im Versuch einer akkuraten Repräsentation der Realität. Frankfurt veranschaulicht dies anhand eines Beispiels, in dem eine Wittgenstein’sche Bekannte behauptete, sie würde sich wie ein überfahrener Hund fühlen. Da sie sich tatsächlich schlecht fühlte, war dies keine Lüge. Da sie aber keinesfalls wissen konnte, wie sich ein überfahrener Hund fühlt, traf sie eine Aussage, die nicht versucht die Realität akkurat zu beschreiben (vgl. S. 27-29). Sie war gar nicht an einer akkuraten Beschreibung der Realität und damit einer Achtung der Wahrhaftigkeit ihrer Aussage interessiert (vgl. S.30).
Wie wird Bullshit nun genau definiert?
Hierin liegt die Essenz des Bullshits: Als Bullshit sind Aussagen zu klassifizieren, die keine „connection to a concern with truth“ (S.33) besitzen, trotzdem aber vorgeben, dass sie informativen Gehalt besäßen. Wer die Aussage: „Ich fühle mich wie ein überfahrener Hund“ trifft, denkt nicht, die wortwörtliche Wahrheit, wie ein überfahrener Hund sich fühlt, zu kennen. Damit ist es weder eine wahre Aussage noch eine Lüge, denn beide erfordern das Wissen darum, was tatsächlich wahr ist. Trotzdem soll diese Aussage eine Information darüber vermitteln, wie sich diejenige fühlt, ohne allerdings die Restriktionen der Wahrheit einer solchen Aussage zu beachten.
Am Beispiel von ‚bull sessions‘, bei denen es nicht notwendigerweise darum geht zu sagen, was man wirklich denkt oder fühlt, sondern darum, Meinungen und Reaktionen auf Meinungen auszuprobieren, macht Frankfurt das Charakteristikum des Bullshits noch einmal klar: Einerseits sind diese Gesprächsrunden wie „bullshit by virtue of the fact that they are in some degree unconstrained by a concern with truth“ (S.38), andererseits findet sich dort im Gegensatz zum Bullshit „no pretense that this connection is being sustained“ (ebd.).
Im Zusammenhang mit den Konzepten von ‚heißer Luft‘ und ‚Bluffs‘ macht Frankfurt daraufhin klar, dass ‚Bullshitting‘ noch andere Charakteristika aufweist. Wie heiße Luft ist Bullshit ein Gerede ohne Bezugnahme auf Fakten (vgl. S.43-45). Ähnlich dem Bluff versucht Bullshit, das Gegenüber in die Irre zu führen. Hierbei grenzt Frankfurt Bluffs und Bullshit noch einmal von der Lüge ab: Während die Lüge eine Sache der „falsity“ (S.47) ist, ist Bullshit eine Sache der „fakery“ (ebd.). Der Bullshitter erfindet einfach etwas, um jemanden in die Irre zu führen, der Lügner orientiert sich am Wahren und versucht daraufhin davon abzulenken oder das Gegenteil auszusagen (vgl. S. 47-51).
Damit ist der Bullshitter nicht begrenzt auf eine „certain falsehood at a specific point“ (S.52), er kann auch den Kontext rund um seine Falschaussage faken. Der Lügner muss hingegen innerhalb eines bestimmten wahrheitsbezogenen Kontexts lügen, wenn er das Gegenteil einer Wahrheit als ‚neue Wahrheit‘ vermitteln will.
Während der Lügner mit der Lüge ein Handwerk vollzieht, indem er innerhalb der vorgegebenen Wahrheitsbeschränkungen seine Lüge anfertigt, ist der Bullshitter eher ein Künstler (vgl. S.53). Er schafft frei irgendwelche Aussagen und Kontexte, in die seine Aussagen eingebettet sind, ohne sich dabei an Beschränkungen zu halten. Dabei behaupten sowohl der Bullshitter als auch der Lügner, dass sie Aussagen treffen, die eine Wahrheit vermitteln würden (vgl. S.54).
Die Intention eines Lügners ist beim Tätigen solcher Aussagen sein Gegenüber darüber in die Irre zu führen, dass er etwas sagt, was er selbst für falsch hält. Der Bullshitter möchte hingegen verstecken, dass ihn die Wahrheit oder Falschheit seiner Aussage überhaupt nicht interessiert (vgl. S.54-55). Er trifft Aussagen, die ihm in seinen Unternehmungen nützen, deren Bezug zur Wahrheit ist ihm aber egal.
Damit verliert der Bullshitter sämtliche Achtung der Wahrheit, die dem Lügner noch eigen ist, da ein Lügner die Wahrheit wenigstens selbst kennen muss, um zu lügen. Weil der Bullshitter zusätzlich noch die Kriterien, die wahre Aussagen ermöglichen, komplett ignoriert, ist Bullshit nach Frankfurt eine größere Gefahr für die Wahrheit als die Lüge es ist (vgl. S.61). Aus diesem Grunde ist Bullshit eine Herausforderung für die der (zumindest meistens) Wahrheit verpflichtenden Philosophie als auch für eine Gesellschaft, in der die Akzeptanz von Bullshit allmählich den Zwang zur Bezugnahme auf die Wahrheit auflöst.
von Timon Hruschka
Quelle:
Frankfurt, H.G. (2005). On Bullshit. Princeton University Press.