Corona ist eine Krankheit, die den ganzen Körper angreift und teilweise auch das Gehirn. Kann man Effekte auf die kognitiven Leistungsfähigkeiten feststellen? Und lassen sich diese Effekte in IQ-Punkten angeben?
Wir wollen uns im folgenden Artikel eine Studie des King’s College in London anschauen (1). Zunächst jedoch dazu, wie wir auf diese Studie gestoßen sind:
Aus der Wissenschaft: Hit oder Humbug?
Vor der Ministerkonferenz am 28.10.2020 wies der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, der gerne wissenschaftliche Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit mitteilt, auf eine Studie der IQ-Entwicklung im Rahmen einer Covid-19 Erkrankung hin.
Karl Lauterbach twitterte:
Mittlerweile berichten auch Zeitschriften wie “Die Welt” über diese Studie. Zusätzlich berichten ‚coronaskeptische‘ Blogs über diese Studie, meist mit dem Ziel zu beweisen, dass die Studie kompletter Nonsens ist. Dabei lassen sie aber meist das methodische Verständnis für das, was hier gerechnet worden ist, vermissen.
Ist diese Studie denn jetzt Hit oder Humbug? Die Antwort darauf ist, wie meistens in der Wissenschaft, komplexer…
Im Folgenden Artikel wollen wir zunächst die Aussagen Lauterbachs und danach die Studie selbst einmal unter die Lupe nehmen.
Ist Angst vor IQ-Verlust gerechtfertigt?
Zunächst interessieren wir uns für die Aussagen Lauterbachs. Genauer: Stimmt es, dass man “[b]ei schweren Verlauf (…) im Durschnitt 8.5 IQ Punkte [verliert]” und das Gehirn “um 10 Jahre” altert?
Dabei muss bemerkt werden, dass wir hier die Aussage als solche und, so wir denn kritische Anmerkungen treffen, nicht Lauterbachs Kompetenz im Lesen von Studien untersuchen. Dies ist ein argumentativer Fehlschluss, den wir explizit nicht begehen möchten. Auf Twitter werden Informationen auf 280 Zeichen komprimiert. Das führt zu Vereinfachungen, die u.U. durch den Zwang des Mediums entstehen und nicht auf die twitternde Person zurückzuführen sind. Wenn wir in einigen Passagen kritisch berichten, ist das hier also explizit keine Kritik an Herrn Lauterbach, sondern an diesem einen Tweet. Trotzdem ist es wichtig, Informationen zu analysieren und einzuordnen. Auch, um ungewollter Panik vorzubeugen.
Die erste und wichtigste These ist, dass im Durchschnitt bei einem schweren Verlauf der Erkrankung 8.5 IQ-Punkte verlorengehen. Schauen wir uns an, wo diese Zahl in der Studie zu finden ist. Diese Zahl findet sich im Diskussionsteil der Studie. Das ist der Teil, in dem die Ergebnisse nochmal in sprachlicher (und nicht nur mathematischer) Form zusammengefasst werden. Dort steht:
“The scale of the observed deficits was not insubstantial; the 0.57 SD global composite score reduction for the hospitalised with ventilator sub-group was equivalent to the average 10-year decline in global performance between the ages of 20 to 70 within this dataset. (…) For comparison, in a classic intelligence test, 0.57 SDs equates to an 8.5-point difference in IQ.”
Wir finden in diesem Absatz, der die statistischen Ergebnisse der Studie unzweifelhaft zusammenfasst, beide Zahlen. Den “10-year decline”, um den wir uns gleich kümmern werden und die 8.5 IQ-Punkte. Was uns stutzig machen sollte ist der Nachsatz: “For comparison, in a classic intelligence test”. Warum schreiben die so etwas mit der Betonung auf classic?
Die Antwort ist einfach: Hier wurde nämlich kein IQ-Test durchgeführt. Den Hinweis findet man etwas weiter im Text, im Methodenteil:
“In this respect, the battery of tests should not be considered an IQ test in the classic sense, but instead, is intended to differentiate aspects of cognitive ability on a finer grain.”
Die Testbatterie, von der hier die Rede ist, ist eine Sammlung aus neun kleineren Aufgaben, die aber definitiv kognitive Fähigkeiten messen. Sie sind zwar kein IQ-Test, aber auch kein Nonsens, wie andere Blogs behaupten. IQ-Tests selbst differieren auch stark in ihrer Qualität und Validität (messen sie wirklich das, was sie messen sollen?) und dass hier bestimmte kognitive Fähigkeiten gemessen werden, steht außer Frage. Außerdem wird der Begriff ‚Intelligence‘ im Englischen weiter gefasst als im Deutschen. Forscher, die im angelsächsischen Bereich der Wissenschaften forschen, messen wenn sie ‚Intelligence‘ messen, meist mehr Fähigkeiten als deutsche Forscher, wenn sie ‚Intelligenz‘ messen.
Hier drei Beispiele aus der Testbatterie:
2D Bildrotation:
Blöcke rearrangieren:
„Tower of London“:
Was heißt das denn jetzt?
Die Antwort dazu besteht aus mehreren Punkten:
- Wir haben es hier nicht mit einem standardisierten IQ-Test zu tun. Über den möglichen IQ-Verlust durch eine Covid-19 Erkrankung sagt diese Studie erst einmal nichts aus.
- Die Zahl mit 8.5 IQ-Punkten muss hier als Analogie gesehen werden. Man könnte sagen, dass man um 8.5 TP (Testpunkte in Anlehnung an IQ Punkte) in diesem Test runtergeht, nach einer Covid-19 Erkrankung, bei der man beatmet werden musste. Hier wird eine Analogie geformt, um aufzuzeigen, wie man als Laie den Effekt einordnen kann. Die Rede von diesen Punkten kommt daher, dass IQ-Tests standardmäßig auf den Wert 100 als Mittelwert und eine Standardabweichung (in Papers SD) auf den Wert 15 festgelegt sind. Dies ermittelt man (zumindest idealerweise) durch eine Normpopulation, deren Werte man dann in eine Normalverteilung transformiert. Was genau dabei passiert erklären wir gerne in einem späteren Blogartikel.
- Man kann also anhand der vorliegenden Daten sagen, dass eine Beatmung bei einer Covid-19 Erkrankung mit einer schlechteren kognitiven Leistungsfähigkeit (die dieser Test misst) korreliert ist. Man kann aber noch nicht mit 100%er Sicherheit sagen, Covid-19 Infektionen führen zu einer schlechteren kognitiven Leistungsfähigkeit. Dazu müsste man Experimente oder Langzeitstudien durchführen.
War da nicht noch etwas?
Wichtig ist bei allen hier dargestellten Erkenntnissen zu beachten, dass Störvariablen wie das Alter herausgerechnet wurden. Das heißt, dass die folgenden Effekte vermutlich wirklich auf eine Covid-19 Infektion rückführbar sind.
Eine Aussage Lauterbachs bleibt noch zu untersuchen: “Das Gehirn altert um zehn Jahre”. Das stimmt, aber nur eingeschränkt. Das stimmt, wenn man den durchschnittlichen ‘Altersverfall’ der 20-70 Jährigen in der Stichprobe dieser Studie als Referenzmaterial nimmt. Das heißt vereinfacht ausgedrückt, das Gehirn verändert sich wie wenn man von 20 auf 30 oder von 30 auf 40 Jahre springt. Das gilt nur für diejenigen, die an eine Beatmungsmaschine angeschlossen werden mussten.
Auch hier gilt: Korrelation ist keine Kausalität. Menschen, die an Covid-19 erkrankten und deswegen beatmet werden mussten, zeigten in diesem Test eine schlechtere Leistung als die anderen TeilnehmerInnen. Ob das durch das Virus oder die durch das Virus induzierten Atembeschwerden geschieht, ist aus diesen Daten nicht festzustellen. Das ist für diejenigen, die beatmet werden mussten egal, da gilt Corona als Auslöser der Kausalkette Covid Infektion -> Beatmung -> Verlust kognitiver Fähigkeiten. Es ist auch für uns egal, denn wenn Corona bei uns einen schwerwiegenden Verlauf nimmt, werden wir alle über kürzere oder längere Zeit beatmet werden müssen. Aus wissenschaftlicher Sicht sollte aber darauf hingewiesen werden, dass die Art der Kausalität dieses Effekts nicht komplett geklärt ist.
Es wurde anhand der Daten der SARS & MERS Epidemien auch argumentiert, dass mögliche neuropathologische Folgen mitunter auch auf Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zurückzuführen sein könnten (2).
Obwohl hier kein klassischer IQ-Test gemacht wird, muss man folgende Anmerkung treffen: Dass diese Studie nicht wirklich etwas über den IQ aussagt, heißt nicht, dass es nicht der Fall ist, dass eine Covid-Erkrankung sich auch auf den IQ auswirken kann. Wir können nur anhand dieser Studie keine wirkliche eine Aussage über den Zusammenhang von IQ und Covid-19 Erkrankung treffen. Das heißt aber nicht, dass das in Zukunft nicht möglich wäre und es nicht naheliegend ist, dass man ähnlich zu den hier gemessenen kognitiven Fähigkeiten auch an IQ Punkten einbüßt.
Was ist denn mit den milden Verläufen?
Zunächst: Die AutorInnen der Studie messen auch bei milden, nicht positiv getesteten, ‚Verläufen‘ Effekte. Einige dieser Effekte würden wir aber mit einem mittelgroßen ‘aber’ versehen.
Das liegt nicht daran, dass die verglichenen Gruppen interne Verzerrungen haben könnten. Variablen wie ‘Alter’, ‘Geschlecht’ oder ‘Ethnie’ wurden über ein Generalised Linear Model herausgerechnet. Das funktioniert grob gesagt so, dass man diejenige Varianz (d.i. Abweichungen der einzelnen TeilnehmerInnen vom Mittelwert), die durch andere Faktoren als eine Covid-19 Infektion erklärt wird, herausrechnet. Damit bleibt nur diejenigen Unterschiede zwischen verschiedenen TeilnehmerInnen (= Varianz) übrig, die durch eine Covid Infektion oder Störfaktoren bestimmt werden.
Das Problem bei den leichten Fällen liegt hier an der Methodik dieser Studie. Milde Verläufe werden nämlich über folgende Frage (per Selbstauskunft) gemessen:
Q10: Have you had, or suspect you have had symptoms of Covid-19
No
Yes, but the symptoms have passed
Yes, currently experiencing symptoms
Für diese Personen, wenn sie nicht zusätzlich Atembeschwerden berichteten, nehmen die Autoren die Bezeichnung “krank, ohne Atembeschwerden”. Hier fand sich nur noch ein Effekt von -0.04 SD, um die Analogie selbst zu benutzen: 0,6 IQ Punkten. Ob diese Personen wirklich an Corona erkrankt waren oder an etwas anderem oder es einfach nur witzig fanden, falsche Antworten anzugeben, kann man nicht wirklich sagen.
Für Personen, die gleichzeitig Atembeschwerden berichteten, lag das kognitive Defizit noch etwas höher, nämlich bei -0.10 SDs, das wären 1,5 IQ Punkte.
Das wahrscheinlich interessanteste Ergebnis betrifft positiv Geteste…
Zusätzlich inkludierten die AutorInnen die Möglichkeit anzugeben, ob jemand bereits positiv auf Corona getestet worden war. Von 9014 die angaben, dass sie Symptome gehabt hätten, gaben 187 Personen an, dass sie auch einen positiven Corona-Test zurückbekommen hätten. Wichtig ist zu beachten, dass diese Gruppe keine Atemschwierigkeiten berichtete. Das heißt, die Effekte sind nicht auf Atemschwierigkeiten rückführbar.
Der Unterschied zwischen der Gruppe, die positive Tests erhalten hatte und derjenigen, die keinen positiven Test erhielt (aber Symptome berichtete) ist beachtlich: -0,32SD, das wären in der IQ-Analogie 4,8 IQ-Punkte. Dieses Ergebnis zeigt, dass auch milde Verläufe, die durch einen Test bestätigt wurden, u.U. mit kognitiven Beeinträchtigungen einhergehen.
Es gibt hier ein paar Limitationen, die wir auch oben schon angerissen haben:
Es handelt sich hier um eine Querschnittsstudie, d.h. es wird über alle ProbandInnen hinweg nur einmal zu einem Messzeitpunkt gemessen. Dann werden die verschiedenen Gruppen post-hoc verglichen. Die Unterschiede in den Gruppen könnten daher durch Störvariablen hervorgerufen worden sein. Die AutorInnen rechnen die Effekte von “Alter, Geschlecht, Rasse-Ethnizität, Händigkeit, erste Muttersprache (Englisch vs. andere), Wohnort (Großbritannien vs. andere), Bildungsniveau, beruflicher Status und Jahresverdienst” zwar heraus, allerdings könnte es weitere Störvariablen geben:
Es könnte beispielsweise sein, dass sich in diesem Sample kognitiv eher schwache Menschen mit Covid-19 angesteckt haben. Dann kommt der Effekt womöglich zu einigen Teilen gar nicht aufgrund der Krankheit zustande, sondern war schon vorher da.
Es könnte auch sein, dass Menschen die es witzig fanden, fälschlicherweise anzugeben, positiv getestet worden zu sein, kognitiv nicht ganz auf der Höhe sind oder den Test ebenfalls nicht ernst genommen haben. Um diese Möglichkeiten auszuräumen, müsste man Langzeitstudien durchführen, die z.B. vor und nach der Erkrankung die kognitiven Fähigkeiten der TeilnehmerInnen messen. Außerdem müsste man die Testung selbst vornehmen und nicht auf Berichte der ProbandInnen bauen.
Positiv anzumerken ist auf jeden Fall die riesige Probandenzahl. Normalerweise schlägt man sich in der Psychologie mit Probandenzahlen um die 100-1000 Probanden herum. 85.000 sind in der psychologischen Forschung schon extrem viel. Diese große Probandenzahl führt auch dazu, dass man sich der Größe der gemessenen Effekte recht sicher sein kann. Durch die große Stichprobe sollte der Test gut an der Leistungsfähigkeit der Grundgesamtheit (hier: alle Menschen, die die BBC rezipieren), aus der diese Stichprobe ‚gezogen worde‘, normiert sein.
Zusammenfassung
- Die Studie zeigt, dass mit Covid-19 nicht zu spaßen ist. Mit einer Covid-19 Erkrankung kann auch eine Verschlechterung kognitiver Fähigkeiten einhergehen.
- Ob diese Verschlechterung allerdings schlimmer ist, als bei anderen Atemwegserkrankungen, kann man anhand dieser Studie nicht sagen. Die AutorInnen weisen explizit darauf hin, dass so etwas noch untersucht werden müsste.
- Die Studie trifft keine Aussagen über den IQ, sondern über allgemeine kognitive Fähigkeiten. Der IQ wird angegeben um die Effekte als Laie besser einordnen zu können.
- Engültige Aussagen wie: “Eine Covid-Erkrankung führt zu einem so-und-so starken Verlust kognitiver Fähigkeiten”, lassen sich anhand dieser Studie noch nicht treffen. Dazu braucht es weitere Studien mit einem anderen Studendesign.
- Die Studie liefert definitiv Evidenz dafür, dass sich eine Covid-19 Erkrankung auch auf das kognitive Leistungsvermögen auswirkt. Die Studie ist, v.a. aufgrund der großen Probandenzahl, eher als Hit, denn als Humbug einzuordnen. Ob es Störvariablen gibt und wie lange die kognitiven Defizite anhalten, weiß man noch nicht.
von Timon Hruschka
Quelle:
(1) https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.10.20.20215863v1
(2) https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13854046.2020.1811894?casa_token=G-dox88hcoAAAAAA%3A3-qOfqcwLpmjKOJ46gMh2rlLR7vaB1u3cHxTbGM9XL_B9AdGMIGgNfCzS2A5WuKeRkIUM3QGuUof