“Niemand hat je bezweifelt, daß es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet.” So beginnt Hannah Arendts Essay Wahrheit und Politik. Warum sieht Arendt das Verhältnis von Wahrheit und Politik so kritisch? Dass die Politik eine Gefährdung für die Wahrheit sein kann, scheint uns klar. Arendt geht jedoch weiter: “Wie kann die Wahrheit auch eine Gefährdung für die Politik darstellen?”
Hannah Arendt: Zum Verhältnis von Wahrheit, Wirklichkeit und Politik
Gleich zu Beginn ihrer Analyse in Wahrheit und Politik charakterisiert Arendt die Beziehung zwischen Wahrheit und Politik als problematisch. Vielerorts scheinen Politiker es mit der Wahrheit nicht allzu genau zu nehmen und gleichzeitig kann es sogar moralische Gründe geben, in gewissen Situationen zu lügen (vgl. S.44f)(1). Welche Gründe für diese Borderline-artige Beziehung zwischen Wahrheit und Politik gibt es laut Hannah Arendt?
In ihrer Analyse interessiert sie nicht „[d]ie Frage, was Wahrheit eigentlich sei“ (S.48), sondern das Verhältnis der Wahrheit zur Politik. Damit werden Wahrheiten in ihrer Analyse als zwischenmenschliche Ereignisse charakterisiert, bei denen Menschen „Zeugnis ablegen für das, was ist und für sie in Erscheinung tritt, weil es ist.“ (S.46). Im Anschluss an Leibniz differenziert Arendt nun zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Was sie mit dieser Differenzierung meint, wird im Anschluss gleich in der Beziehung dieser Wahrheiten zur Politik klar gemacht.
Vernunftwahrheit und Politik
Zu den Vernunftwahrheiten zählt Arendt „mathematische, wissenschaftliche und philosophische“ (S.48), d.h. allgemeingültige und aus der Beschaffenheit der menschlichen Vernunft folgende Wahrheiten. Diese Wahrheiten sind immer und unabhängig vom sie denkenden Subjekt gültig, da sie für alle vernünftigen Subjekte aufgrund ihrer Vernünftigkeit als wahr gelten müssen. Anhand dieser Wahrheiten entzündete sich in der griechischen Antike der Konflikt zwischen Wahrheit und Politik.
Während der damalige Philosoph auf der Suche nach immerwährenden Wahrheiten (=Vernunftwahrheiten) war, befand sich der griechische Staatsbürger im „Bereich menschlicher Angelegenheiten“ (S.50). Dieser Bereich ist durch eine dauerhafte Fortentwicklung der Umstände gekennzeichnet, mit der auch ein ständiges Anpassen eigener Meinungen einhergeht. Es ist wichtig, diese Unterscheidung zu verstehen: Der Bereich des zwischenmenschlichen Lebens, zu dem notwendigerweise auch die Politik gehört, ist hauptsächlich von Meinungen geprägt, nicht von Vernunftwahrheiten (auch wenn es Ausnahmen geben mag).
Dies ist er, da das gesellschaftliche Leben stetigem Wandel unterworfen ist und (politische) Diskussionen hauptsächlich auf Interpretationen von Tatsachen beruhen. Das kann man sich leicht klarmachen, wenn man bspw. Zeitungsartikel liest, die versuchen zu ergründen, warum Trump 2020 nicht wiedergewählt worden ist. Hier werden viele Argumente für gewisse Interpretationen von Tatsachen (“Trump wurde abgewählt” & “Die und die Regionen gewisser Staaten haben aber Trump gewählt”) vorgebracht. Dass es sich bei diesen Interpretationen um Meinungen handelt, sieht man zuletzt daran, dass sich viele Menschen über die Richtigkeit dieser Interpretationen streiten können. Über Vernunftwahrheiten wie “1+1 = 2” kann man nicht (sinnvollerweise) streiten.
Aufgrund ihrer Wechselhaftigkeit wird Meinung von den antiken Philosophen als bloße Illusion bezeichnet und damit zum „eigentliche[n] Gegensatz der Wahrheit“ (S.51). Gleichzeitig gehört Meinung aber „zu den unerläßlichen Voraussetzungen aller politischen Macht“ (ebd.). Damit griffen die Philosophen das Fundament der Politik an.
Später kamen sie zu der Einsicht, dass die Fähigkeiten der Vernunft begrenzt sind. Auch die Erkenntnisse der Vernunft könnten also fehlbar und eine „Garantie für die ‚Richtigkeit‘ unseres Denkens“ (S.53) im Gespräch untereinander zu finden sein. Hiermit wird die Meinung als reliable Stellungnahme zur Welt rehabilitiert.
Während die Vernunftwahrheit ihre Überzeugungskraft durch eine zwingende vernünftige Evidenz gewinnt, ist im politischen Raum entscheidend, wie viele andere Menschen der gleichen Meinung sind. Zwingende vernünftige Evidenz heißt, dass jemand vernünftiges nicht anders kann, als einem Satz wie “a²+b²=c², in einem rechtwinkligen Dreieck, wobei c = Hypotenuse” zuzustimmen.
Um sich in der politischen Sphäre durchsetzen zu können, reicht vernünftige Evidenz allerdings nicht. Um sich im politischen durchsetzen zu können, braucht ein Gedanke Macht, die er erst durch eine möglichst große hinter ihm stehende Mehrheit erlangt (vgl. S.68).
Der durch deren Bereichstrennung (“Vernunftwahrheit hat mit Politik erst einmal nichts zu tun, sie muss in mehrheitsfähige Meinungen übersetzt werden.”) scheinbar beigelegte Streit zwischen Wahrheit und Politik besteht trotzdem fort: „Nur ist an die Stelle der Vernunftwahrheit die Tatsachenwahrheit getreten“ (S.54).
Zum Verhältnis von Tatsachenwahrheiten und Politik erfahrt Ihr mehr in Teil 2. Aufgrund der Länge des Textes haben wir uns entschieden, ihn in zwei Teilen zu publizieren.
von Timon Hruschka
Quelle:
(1) Arendt, Hannah. (1987). Wahrheit und Politik. In: Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik (2. Aufl., S. 44-92). München: R. Piper GmbH & Co. KG.