Dies ist der Zweite Artikel zu Hannah Arendt’s Essay Wahrheit und Politik in dem das problematische Verhältnis von Wahrheit und Politik dargestellt und ergründet wird. In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit der spannendsten Frage dieses Verhältnisses: „Wie stehen die Tatsachenwahrheiten und die Politik zueinander?“
Tatsachenwahrheit und Politik
Zu Beginn ihres Aufsatzes stellt Arendt fest, dass Tatsachenwahrheiten (= Etwas ist in der Realität in einer bestimmten Art und Weise passiert. Ein Beispiel für eine Tatsachenwahrheit wäre: “Napoleon hat die Schlacht bei Jena und Auerstedt gewonnen.”) aufgrund ihrer besonderen Beschaffenheit stärker durch politische Eingriffe gefährdet sind als Vernunftwahrheiten (vgl. S.49). Sie führt über den gesamten Text verteilt mehrere Gründe dafür an, die hier zugunsten der Übersichtlichkeit dieses Essays gebündelt werden.
Zunächst sind Tatsachenwahrheiten kontingent (vgl. S.63). Während die Vernunftwahrheit, dass 1 + 1 = 2 zwingend gültig ist, könnte man sich bei einer Tatsache wie der preußischen Niederlage gegen Napoleon auch vorstellen, dass Napoleon die Schlacht bei Jena und Auerstedt zufälligerweise verloren hat.
Dazu kommen weitere Eigentümlichkeiten der Tatsachenwahrheiten: Sie sind abhängig davon, „daß Menschen [vor Anderen] Zeugnis ablegen“ (S.57) über das, was passiert ist. Damit ist diesen Wahrheiten eine politische Dimension eigen, die ihre besondere Gefährdung erklärt: Es fällt leicht, sie als bloße Meinung einer anderen Person zu diffamieren und sie einer Lüge gleichzustellen, die das Gegenteil der Tatsache behauptet. Die Lüge besitzt der Tatsache gegenüber sogar den Vorteil, dass sie glaubwürdiger dargestellt werden kann als eine rein zufällig wirkende Wahrheit (vgl. S.75).
Dieser Punkt ist m.E. ein wichtiger: Lügen können so erzählt werden, dass sie maximal Sinn ergeben. Da ich beim Lügen nicht an eine durch Zufall geprägte Wirklichkeit gebunden bin, kann ich eine Erzählung um die Lüge herum aufbauen, die anderen Menschen einleuchtender scheint, als eine meist zufällige Wirklichkeit.
Gegen eine Beliebigkeit von Tatsachen
Obwohl Tatsachen dadurch eine große Angriffsfläche bieten, dürfen sie nicht mit Meinungen gleichgesetzt werden: Eine Meinung hat meist eine Tatsache zum Gegenstand und ist solange legitim, wie sie die zugrundeliegende Tatsache respektiert. Die Tatsache selbst ist hingegen keine Meinung, denn sie beansprucht einen Wahrheitsgehalt mit „zwingender Gültigkeit“ (S.59) wie beispielsweise die Aussage „‘Im August 1914 fielen deutsche Truppen in Belgien ein‘“ (ebd.). Eine Tatsache wird nicht dadurch erhärtet, dass ihr möglichst viele Menschen zustimmen, wie das bei Meinungen der Fall ist.
Trotzdem ist es schwierig, Menschen von Tatsachen zu überzeugen: Wird eine Tatsachenwahrheit angezweifelt, können zwar noch weitere Tatsachenwahrheiten angeführt, diese jedoch ebenfalls angezweifelt werden (vgl. S.64).
Diese ermüdenden Diskussionen kennen sicherlich viele von euch. Man möchte jemand anderes von einer Tatsache überzeugen und kann dazu nur wieder andere Tatsachen anführen, die wiederum angezweifelt werden. Ein Beispiel wäre, dass das Covid-19 Virus nicht mit der Grippe vergleichbar ist. Man weist Zweifler darauf hin, dass R0 beim Coronavirus um die 3.6 liegt, bei den meisten Influenzaviren aber unter 2.0. Der Wert wird angezweifelt, woraufhin man auf von Wissenschaftlern publizierte Studien verweist. Jetzt werden aber auch diese Studien (die als naturwissenschaftliche Erkenntnisse Tatsachen darstellen) angezweifelt. Jetzt wird es schwierig, andere von dieser Tatsache zu überzeugen. Bei diesem Beispiel soll es nicht um die eingeschätzte Gefährlichkeit von Covid-19 und eine Legitimierung politischer Maßnahmen gehen, das ist z.T. wieder Gegenstand von Meinungen. Dass Covid-19 keine Grippe ist, ist aber eine Tatsachenwahrheit, an der sich Meinungen auszurichten haben.
Tatsachen und Politik: zwischen Bedrohung und Hilfestellung
Nicht nur die Politik bedroht die Wahrheit, auch umgekehrt macht die Wahrheit der Politik eine Kampfansage: Wahrheit ist despotisch, sie lässt keinen Austausch und keine freiwillige Zustimmung zu. Damit übt sie politische Macht aus, über die nicht debattiert werden kann. Einer Tatsache kann man nicht zustimmen, man kann sie nur weg-lügen (vgl. S.60). Somit widerspricht die Wahrheit dem Wesen der (demokratischen) Politik, verschiedene Meinungen der Menschen in Betracht zu ziehen und einen gemeinsamen Konsens zu finden (vgl. S.61).
Ein Beispiel für dieses Problem der Politik mit der Wahrheit findet man an der oft als ‘alternativlos’ proklamierten Politik der Bundesregierung (2, 3). Mithilfe der Behauptung einer solchen Alternativlosigkeit werden Entscheidungen, die aufgrund von mehrheitsfähigen Meinungen gefällt werden, als Wahrheiten behauptet, denen man zustimmen muss. Damit werden ganze Bevölkerungsgruppen von der Diskussion ausgeschlossen, die den zugrunde liegenden Wahrheiten sogar zustimmen, deren Einordnung dieser Wahrheiten aber von dem Kurs der Regierung abweicht. Das ist erst einmal keine Kritik an der Politik der Bundesregierung, sondern nur Kritik an der Proklamierung einer Politik als einer alternativlosen. Alternativen gibt es in der Politik meistens, sie mögen dabei mehr oder weniger sinnvoll sein. Man sollte sich aber im Klaren darüber sein, dass in der Politik über verschiedene Meinungen zu Tatsachen und nicht über die Tatsachen selbst abgestimmt wird. Die Bezeichnung einer Politik als einer ‘wahren’ & ‘alternativlosen’ schadet, zumindest nach Hannah Arendt, Silke van Dyk und Bernd Stegemann (s. Quellen), dem Wesen der demokratischen Politik und deren Prozess einer Mehrheitsfindung.
Gleichzeitig hilft die Wahrheit der Politik bei ebendiesem Prozess: Um eine diskursiv ermittelte Übereinkunft ermöglichen zu können, bedarf es einer Einschränkung der sonst unendlich erdenkbaren Meinungen. Wahrheit schränkt die Möglichkeiten zur Positionierung ein (vgl. S.63f).
Die Wirklichkeit und deren Bedeutung für die Politik
Hier kommt der Begriff der Wirklichkeit ins Spiel. Auch wenn dieser bei Arendt unterbestimmt bleibt, ist für sie klar, dass Wirklichkeit nur im öffentlichen Austausch entsteht (denn Garantie für die Richtigkeit unseres Denkens ist das Gespräch (s.o.)) und gleichzeitig Bedingung des gemeinsamen – und damit auch allen politischen – Handelns ist (vgl. S.44&84f). Die Grenzen dieser Wirklichkeit werden durch Tatsachen bestimmt (vgl. S.64), welche wiederum die Menge an möglichen Meinungen einschränken.
Diesen Sachverhalt kann man sich leicht klarmachen, indem man sich fragt, was denn ohne meinungseinschränkende Tatsachenwahrheiten passieren würde: Wenn niemand sich an Tatsachen orientiert, dann hat jeder eine zufällige eigene Meinung (vorausgesetzt, dass es unendlich, oder zumindest sehr viele mögliche Meinungen gibt). Wenn jeder eine zufällige eigene Meinung hat, sich aber niemand an Tatsachen orientiert, dann kann man andere Menschen auch nicht von der eigenen Meinung überzeugen. Es gibt keinen Maßstab für die Richtigkeit von Meinungen mehr. Wenn keine Menschen andere von ihren Meinungen überzeugen können, dann ist eine Politik, die auf mehrheitsfähigen Meinungen beruht, nicht mehr möglich. Alle Menschen werden mit ihren Meinungen aneinander vorbeireden.
Lügen als Gefahr für die Wirklichkeit
Wenn ein Mensch lügt, also das Gegenteil einer Tatsachenwahrheit aussagt, so versucht er, die Wirklichkeit (das, was im Gespräch ausgehandelt wird) zu ändern und vollführt damit eine (politisch relevante) Handlung. Die Konversion einer Tatsachenwahrheit in eine bloße Meinung ist ähnlich, denn auch hier wird ein Tatbestand zu ändern versucht. Tatsachen selbst vermögen demgegenüber oft nicht, die Wirklichkeit zu ändern. Nach Arendt sorgen sie eher dafür, dass Menschen den status quo akzeptieren, „daß die Dinge nun einmal so sind, wie sie sind“ (S.75). Das ändert sich erst in einer Gesellschaft, in der die Lüge zum Instrumentarium der Politik gehört. Dort „ist die einfachste Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber“ (ebd.).
Hierbei stellt Arendt einen umfassenden Lügenbegriff auf: Nicht nur die blanke Faktenverleugnung repressiver Diktaturen, sondern auch das dem Westen eigentümliche image-making, das Auslassen unliebsamer Fakten zugunsten eines bestimmten Bildes, zählt sie zu den politisch instrumentellen Lügen (vgl. S.76).
Dieser moderneren Art des Lügens ist es eigen, nicht nur politische Gegner zu täuschen, wie es früher beispielsweise das Ziel außenpolitischer Lügen war, sondern schlechthin jeder soll von den Lügen erfasst werden. Je erfolgreicher eine Lüge – z.B. über die allumfassenden Massenmedien – die Wirklichkeiten von Menschen manipuliert, desto sicherer wird der Lügner schlussendlich selbst überzeugt. Das lässt sich wiederum durch die Tatsache erklären, dass eines jeden Wirklichkeit im Austausch mit Menschen entsteht (s.o.).
Moderne Lügen sind laut Arendt der Versuch einer Abschaffung der bestehenden Wirklichkeit, denn nicht einmal mehr der Lügner selbst wird am Ende die Wahrheit kennen (vgl. S.78). Dies beherbergt eine große Gefahr: Eine von images abhängige Politik bekämpft Wahrheiten, die dem image gefährlich werden können, stärker noch als von vornherein als unglaubwürdig empfundene feindliche Propaganda.
Das Resultat einer wahrheitsverfeindeten Politik kann trotzdem keine neue Wirklichkeit sein. Dadurch, dass immer neue auf den Massengeschmack zugeschnittene Lügen entworfen werden müssen, ändern sich die Lügeninhalte „mit den jeweiligen Verhältnissen und Bedürfnissen, welche sich selbst ständig ändern.“ (S.83). Das zieht eine Zerstörung des „menschliche[n] Orientierungssinn[es] im Bereich des Wirklichen“ (ebd.) nach sich. Das passiert laut Arendt, da man bei immer neuen und an den Massengeschmack angepassten Lügen irgendwann gar nicht mehr weiß, was denn nun die Wirklichkeit ist. Ein leichtes Beispiel lässt sich hier an der Trumpschen Darstellung der Coronakrise finden. Zunächst wurde das Coronavirus instrumentalisiert, um Stimmung gegen China zu machen und die Wichtigkeit von Einreiseverboten gegen chinesische Bürger betont. Später, als diese Darstellung nicht mehr nützlich war, ist Trump dazu übergegangen, die Gefahr des Virus herunterzuspielen, was der Darstellung ‘der Gefahr aus China’ diametral entgegensteht (2). Aus diesen, das öffentliche Bild von Trump als Krisenmanager manipulierenden Darstellungen, resultiert eine Verwirrtheit über das, was wirklich Fakt ist. Eine Verwirrtheit, die man in einigen Facebook- oder Telegramgruppen beobachten kann. Das Problematische an dieser Verwirrtheit ist, dass sie zu einem Glauben an beliebige Meinungen führt, die die Möglichkeit einer allen gemeinsame Wirklichkeit zerstört.
Ergebnisse der Betrachtung
Durch Macht lässt sich keine neue allen gemeinsame unumstößliche Wirklichkeit schaffen, welche Voraussetzung für Handlung und Veränderung in der Politik ist. Das können nur die Tatsachen selbst.
Damit sind die Grenzen der Politik aufgezeichnet: Nur Tatsachen sind im Stande, eine allen gemeinsame Wirklichkeit zu erschaffen, politische Propagandafiktionen nicht.
Es liegt aus diesem Grunde im Interesse von Politikern, von der Politik unabhängige, nur der Wahrheit verpflichtete Institutionen zu fördern, beispielsweise Universitäten oder Gerichtshöfe (vgl. S.87). Sonst würden sie langfristig ihre eigene Möglichkeit, Politik durch mehrheitsfähige Meinungen zu machen, zerstören.
Die Politik ist dazu verurteilt, mithilfe der Wahrheit eine konsensuelle Wirklichkeit zu erhalten, ohne dabei politische Handlungsfreiheit gegenüber dem Despotismus dieser Wahrheit einzubüßen.
von Timon Hruschka
Quellen:
(1) Arendt, Hannah. (1987). Wahrheit und Politik. In: Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik (2. Aufl., S. 44-92). München: R. Piper GmbH & Co. KG.
(2) Stegemann, B. (2017). Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie. Theater der Zeit.
(3) Van Dyk, S. (2017). Krise der Faktizität? Über Wahrheit und Lüge in der Politik und die Aufgabe der Kritik. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 47(188), 347-368. https://doi.org/10.32387/prokla.v47i188.65