Einen Artikel über Selfies würde man nicht unbedingt in einem Magazin erwarten, das sich “International Journal of Injury Control and Safety Promotion” nennt. Was haben denn Selfies mit Sicherheit zu tun?
Nun: Mit Aufkommen kompakter Fotogeräte (Smartphones!) und der weiten Verbreitung von sozialen Netzwerken verunglücken immer wieder Menschen während der Aufnahme eines Selfies. Ich habe mir mal die Studie von Jain und Mavani (2017) genauer angeschaut, die sich mit genau diesem Sachverhalt beschäftigt (1). Die folgenden Ausführungen basieren also auf der genannten Studie, sofern nicht anders angegeben.
Der Titel “Tödliche Selfies” ist etwas effekthascherisch: Ja, die Selfies selbst sind nicht tödlich (außer bei Verwendung eines gewissen explosiven Smartphone-Modells vielleicht) – durch sie kommen Menschen aber in Situationen, die gefährlich werden können. Ich fand das spannend genug, um mich mal damit zu beschäftigen.
Was ist ein Selfie?
Zunächst einmal müssen wir uns die Frage stellen, was man unter einem Selfie versteht. Jain und Mavani beziehen sich hierbei auf das Oxford Dictionary. Das Wörterbuch nahm den Begriff im Jahr 2013 auf und beschreibt ein Selfie als Fotografie, die jemand von sich selbst (oder einer Gruppe) aufnimmt, typischerweise mit einem Mobiltelefon und wahrscheinlich mit dem Ziel, das Foto in sozialen Medien zu teilen. Ein Selfie unterscheidet sich dabei von “traditioneller” Fotografie einerseits durch die Technik (damit ist wohl gemeint, dass man die Kamera auf sich selbst richtet oder die Frontkamera verwendet), andererseits indem ein Selfie spontaner und beiläufiger entsteht. Dennoch entstehen Selfies nie aus Versehen.
Bei dieser Definition sind zwei Sachen anzumerken: Man kann durchaus auch Selfies aufnehmen, ohne diese später in sozialen Medien teilen zu wollen – die Definition nimmt dies aber auch gar nicht als zwingendes Kriterium. Später sehen wir auch, dass dieser Teil der Definition durchaus bei der Erklärung des gefährlichen Verhaltens helfen kann. Zu kritisieren ist aber, dass Selfies durchaus genauso geplant und unspontan wie “traditionelle” Fotos entstehen können – man denke an die “Roofers”, die ungesichert auf die Spitze von Wolkenkratzern oder auf Sendemasten klettern, um dort ein Selfie aufnehmen. Selbst wenn das Selfie dann nicht die primäre Motivation der Aktion darstellt, so ist es doch stark zu bezweifeln, dass diese Aufnahmen spontan entstehen. Umgedreht kann auch ein normales Foto eines Gebäudes oder einer anderen Person genauso spontan enstehen wie ein Selfie überlicherweise.
Die etwas knappere Definition von Rattani et al. (2019) (2) dürfte den Begriff des Selfies also recht gut treffen: Demnach ist ein Selfie eine Selbstporträt-Fotografie, typischerweise mit einer Handykamera aufgenommen, die in einer Hand oder mittels eines Selfiesticks gehalten wird.
Belassen wir es dabei und widmen uns den Statistiken:
Todesfälle beim Selfieschießen
Die Autoren haben nun systematisch das Internet nach Daten über Todesfälle durchwühlt, die im Zusammenhang mit der Aufnahme eines Selfies geschehen sind. Genauer gesagt geht es um tödliche Unfälle, die durch Selfies verursacht wurden und sich kurz vor, während, oder kurz nach der Aufnahme ereigneten. In die anschließende Analyse wurden nur Fälle mit einbezogen, die durch mindestens eine zweite Quelle verifizierbar und englischsprachig waren. Insgesamt ist also von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen – man muss auch beachten, dass wahrscheinlich auch eine große Zahl gefährlicher “Selfie-Situationen” einfach glimpflich ausgegangen sind.
Im erhobenen Zeitraum von Januar 2014 bis Juni 2016, also in eineinhalb Jahren, sind weltweit 75 Personen durch Selfies gestorben, die im Schnitt 23,3 Jahre alt waren. 58 Davon waren 25 Jahre oder jünger, während nur 3 Personen 46 Jahre oder älter waren. Die meisten Todesfälle finden sich in der Gruppe der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren, wie die folgende Grafik veranschaulicht:
Grafik: eigene Darstellung mit Daten von Jain und Mavani (2017) (1)
Mehr als die Hälfte der Fälle ereigneten sich in Indien. Die Autoren führen dies auf schlecht ausgestattete Wasserwege und einer hohen Rate an Nichtschwimmern. An dieser Stelle sei außerdem darauf hingewiesen, dass in Indien englischsprachige Zeitungen weiterhin mit großen Auflagen etabliert sind (3). Da nur englischsprachige Berichte miteinbezogen wurden, könnte dies also zu einer etwas nach oben verzerrten Zahl im Vergleich zu anderen nicht-englischsprachigen Ländern geführt haben. Dennoch ist die Aussage sicher nicht wertlos – den “zweiten Platz” teilen sich Russland und die USA, also auch ein englischsprachiges Land. Während Indiens Bevölkerung “nur” circa 4 mal so groß wie die der USA ist, konnten die Forscher hier eine knapp 7 mal höhere Zahl an Todesfällen feststellen.
Die Autoren konnten außerdem einen Geschlechterunterschied finden: Obwohl Frauen mehr Selfies als Männer aufnehmen, waren 82% der Verunglückten männlich.
Wie kommt es dazu?
Die häufigsten Todesursachen bei Selfies sind laut den Autoren das Herunterfallen (24 Fälle), etwa von einer Klippe oder von einem Gebäude, sowie das Ertrinken (21) und Züge (15). Notiz am Rande: Drei der fünf Todesfälle in Zusammenhang mit einer Schusswaffe ereigneten sich in den USA.
Hinter jeder dieser Zahlen stecken tragische Todesfälle. Die Autoren stellen sich die Frage, wie es dazu kommen kann, dass Menschen sich in Lebensgefahr begeben, um ein Selfie aufzunehmen. Sie zitieren einen Artikel von Yongjun et al. (2016) (4), die vier Beweggründe ausmachen, weshalb wir Selfies schießen: Um Aufmerksamkeit zu bekommen, zur Kommunikation, zur Archivierung und zur Unterhaltung. Die Likes der Follower und deren positive Kommentare stellen nun eine Form der Zustimmung und Bestätigung dar. Jain und Marivan halten sich aber recht kurz in ihrer Erklärung – die Ursachenforschung war auch nicht das Ziel des Artikels.
Impression Management
Daher möchte ich hierauf selbst genauer eingehen. Zunächst einmal: Wir können keine Ursache mit endgültiger Sicherheit benennen.
Vielleicht sind einige der Todesfälle wirklich nur ein “dummer Zufall”, und die Situation wäre auch ohne das Schießen eines Selfies tödlich ausgegangen. Selfies führen jedoch zu Ablenkung und eventuell zu fehlender situationaler Aufmerksamkeit, was Jain und Marivan noch als Grund anführen.
Dennoch drängen sich einige Überlegungen auf. Wie schon die Autoren schreiben, stellen sich zwei Fragen: Warum Selfies? Und: Warum Risiko?
Wie eben erwähnt werden zu den Motivationen des Selfieschießens das Erlangen von Aufmerksamkeit und die Kommunikation genannt. Wenn wir uns nochmal die Definition eines Selfies von Jain und Marivan ins Gedächtnis rufen, so wird ein Selbstporträt wahrscheinlich mit dem Ziel aufgenommen, es in einem sozialen Netzwerk zu posten. Ein Selfie ist also eine Form der Selbstdarstellung: Eine Person versucht, den Eindruck, den andere von ihr haben, zu kontrollieren. Es geht dabei über die Selbstdarstellung im Sinne einer reinen Präsentation des Selbst, wie es ist, hinaus. Der aus der Sozialpsychologie stammende (5) Begriff des Impression Managements (6) fasst nochmal prägnanter, dass es hier um den Versuch einer Kontrolle geht, um einen Steuerungsversuch. Zunächst einmal ist Impression Management ein neutraler Begriff, es geht also nicht darum, sich selbst möglichst gut darzustellen, sondern im Allgemeinen darum, den Eindruck bei anderen Personen zu lenken.
In Zeiten von Social Media bekommt das Impression Management eine neue Möglichkeit: Im Internet hat man mehr Möglichkeiten, sich selbst so darzustellen, wie man will. Gerade Selfies haben sich zu einer weit verbreiteten Form der Selbst-Präsentation entwickelt (7). Und: Wer Selfies von sich in gefährlichen Situationen hochlädt, zeigt sich als abenteuerlustige Person.
Pounders et al. (2016) (7) machten neben dem Impression Management das Selbstwertgefühl als zentrale Motivation für das Posten von Selfies aus. Selfies werden demnach gepostet, um das Selbstwertgefühl zu steigern. Durch die Anzahl der erhaltenen Likes wird das positive Selbstbild bestätigt.
Warum das Risko?
Kommen wir abschließend noch kurz zur zweiten Frage: Warum risikoreiches Verhalten? Männer nehmen Verhaltensweisen als weniger riskant wahr als Frauen und verhalten sich auch häufiger risikoreich (8). Das passt soweit zu den Statistiken – Männer sind weit häufiger als Frauen bei Selfies gestorben. Außerdem haben wir gesehen, dass sich unter jungen Erwachsenen und Minderjährigen die meisten Selfie-Todesfälle ereigneten. Vergleicht man das mit dem Forschungsstand zum Risikoverhalten, vervollständigt sich ein Bild: Jugendliche verhalten sich meist risikoreicher als Personen in anderen Lebensabschnitten (9). Wenn wir uns grundsätzlich überlegen, wieso ein Mensch ein Risiko eingeht, müssen wir zum Schluss kommen, dass er sich etwas davon erhofft. Risikoverhalten wird mitunter als Verhalten definiert, das potenzielle negative Konsequenzen beinhaltet, die aber durch wahrgenommene positive Konsequenzen ausgeglichen werden (9). Wie Essau anführt, wird Risikoverhalten unter Jugendlichen zum Beispiel mit der Aussicht auf Akzeptanz unter den Peers in Verbindung gebracht, also der Gruppe der Gleichaltrigen.
Zusammenfassend könnte man also vermuten, dass in vielen Fällen für die wahrgenommene Aussicht auf positive Reaktionen in Form von Likes und die Bestätigung eines positiven Selbstbilds ein Risiko beim Aufnehmen eines Selfies in Kauf genommen wurde und mögliche Gefahren situativ ausgeblendet wurden.
von Benjamin Schätzlein
Quellen/Verweise:
(1) Jain, M. J., & Mavani, K. J. (2017). A comprehensive study of worldwide selfie-related accidental mortality: a growing problem of the modern society. International Journal of Injury Control and Safety Promotion. https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/17457300.2016.1278240
(2) Rattani, A., Derakhshani, R., & Ross, A. (2019). Introduction to Selfie Biometrics. In A. Rattani, R. Derakhshani und A. Ross (Hrsg.) Selfie Biometrics. Advances in Computer Vision and Pattern Recognition. Springer. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-030-26972-2_1
(3) Betz, J. (2018). Indiens Medienlandschaft. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/izpb/263183/indiens-medienlandschaft
(4) Sung, Y., Lee, J.-A., Kim, E., & Choi, S. M. (2016). Why we post selfies: Understanding motivations for posting pictures of oneself. Personality and Individual Differences, 97, 260–265. https://psycnet.apa.org/record/2016-21320-045
(5) Merkl-Davis, D. M., & Brennan, N. M. (2011). A conceptual framework of impression management: new insights from psychology, sociology and critical perspectives. Accounting and Business Research, 41:5, 415-437. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/00014788.2011.574222
(6) Aronson, E., Wilson, T., Akert, R. (2014) Sozialpsychologie. Pearson. S.167 https://www.pearson-studium.de/sozialpsychologie.html
(7) Pounders, K., Kowalczyk, C. M., Stowers, K. (2016). Insight into the motivation of selfie postings: impression management and self-esteem. European Journal of Marketing. 50(9/10), 1879–1892. https://www.emerald.com/insight/content/doi/10.1108/EJM-07-2015-0502/full/html#loginreload
(8) Reniers, R. L. E. P., Murphy, L., Lin, A., Bartolomé, S. P. & Wood, S. J. (2016). Risk Perception and Risk-Taking Behaviour during Adolescence: The Influence of Personality and Gender. Plos One, 11(4). https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0153842
(9) Essau, C. A. (2014). Risk-taking behaviour among german adolescents. Journal of Youth Studies, 7:4, 499-512. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1367626042000315248?casa_token=yqm4_PANlowAAAAA%3AD1ebzfZcpPyDLGcF1JiMmGUt_ztmdXHeOpr-iKJ7bZIa2AFBYE0OE_83SALzmSuOjMCKbK1xpi39