Ein vieldiskutiertes Problem in der Philosophie ist das Verhältnis von Geist & Gehirn oder Seele & Körper. Ist der Geist auf das Gehirn ruckführbar?
Ein Philosoph, der einen neuen Ansatz in die Diskussion um Geist und Gehirn eingebracht hat, ist Henri Bergson. Bergson stand nach seiner Schulausbildung der Weg in die Mathematik oder in die Philosophie offen. 1877 gewann er einen landesweiten Wettbewerb für Mathematik mit einem Beweis, der zu einer Veröffentlichung führte. Trotz dieser exzellenten Aussichten in Mathematik entschied sich Bergson für ein Studium der Philosophie, vielleicht auch, weil er Probleme wie das Verhältnis von Geist und Gehirn als essenzielle ansah.
Das Grundproblem in Materie und Gedächtnis.
Mit einem seiner früheren Werke wollen wir uns in diesem Artikel beschäftigen: Materie und Gedächtnis. In diesem Buch setzt sich Bergson mit zwei zu seiner (und auch heute noch) prominenten philosophischen Strömungen auseinander. Dabei ist es wichtig zu bemerken, dass sich die Strömungen hinsichtlich ihrer Betrachtung von ‚Materie‘ und ‚Geist‘ unterscheiden.
Es stehen sich gegenüber:
- Der Idealismus: Der Idealismus begreift den ‚Geist‘ als das ursprünglich Seiende. Mit dem Geist kommen erst die Gegenstände und damit auch die Materie in die Welt. Wir können uns das so vorstellen, dass erst ein Bewusstsein in der Welt gegeben sein muss, bevor bestimmte Gegenstände in diesem Bewusstsein auftauchen können.
- Der Materialismus: Der Materialismus begreift die ‚Materie‘ als das ursprünglich Seiende. Es gibt durch physikalische Gesetzmäßigkeiten beschreibbare kausale Zusammenhänge zwischen materiellen Dingen. Beispielsweise wird eine Billiardkugel den Impuls einer anderen Billardkugel, die sie trifft, aufnehmen und auf eine gesetzmäßig beschreibbare Art und Weise weiterführen. Der Geist wird hier begriffen als ein ebensolches kausal beschreibbares Phänomen, das aus gewissen Reizweiterleitungen im Gehirn entsteht. Der philosophische Fachbegriff für diese Ansicht ist übrigens der ‚Epiphänomenalismus‘. Der Geist ist ein irgendwie entstehendes Nebenprodukt des kausal determinierten Gehirns.
Die Probleme von Materialismus und Idealismus
Bergson’s Ziel in Materie und Geist ist es nun, die zugrundeliegenden Unzulänglichkeiten der beiden Ansätze aufzuzeigen und uns einen Ausweg aus dieser scheinbar unhintergehbaren Opposition aufzuzeigen. Dazu sollten wir zunächst verstehen, wieso beide Ansätze problematisch sind:
- Der Idealismus kann nicht wirklich erklären, warum Naturwissenschaften funktionieren und beispielsweise Vorhersagen über das Verhalten von Planeten treffen können, die mehrere Lichtjahre von uns entfernt liegen. Wären alle Gegenstände vom Geist abhängig, da dieser die Gegenstände dem Idealismus zufolge konstituiert, bliebe es ein unerklärliches Wunder, wie wir Sachverhalte vorhersagen können, die wir nicht wahrnehmen.
- Der Materialismus hat zwei Probleme: Erstens scheint es das fast schon mythische Auftreten des Bewusstseins zu geben, das eigentlich überhaupt keinen Zweck hat. Wenn Bewusstseinsinhalte vollständig vom Gehirn konstitutiert werden, dann gibt es keinen Grund, warum das Bewusstsein überhaupt existieren sollte. Ein weiteres, stärkeres Problem ist das folgende: der Materialismus kann nicht erklären, warum aus ausgedehnter Materie auf einmal unausgedehntes Bewusstsein entstehen sollte. Dabei sind die Begriffe ‚ausgedehnt‘ und ‚unausgedehnt‘ in ihrem alltäglichen Sinne zu verstehen. Materie ist notwendigerweise ausgedehnt, da alle Gegenstände, aus denen die Gesamtheit der Materie besteht, ausgedehnt sind. Der Geist ist aber unausgedehnt, wir können ihn nirgendwo in der Welt finden. Wir können nicht durch die Welt laufen und sagen: „Huch, hier ist ja der Geist meiner Nachbarin. Guten Morgen, Nachbarin.“
Woher rühren diese Probleme? Bergson führt die Probleme der beiden Strömungen auf eine gemeinsame Grundlage zurück: obwohl sich der Idealismus und der Materialismus scheinbar stark voneinander unterscheiden, vereinigt sie der gleiche grundlegende Gedankengang.
Beide versuchen Geist und Materie aus dem jeweils anderen herzuleiten. Der Idealismus sieht die Materie als Produkt des Geistes und der Materialismus den Geist als Produkt der Materie. Bergson stellt uns nun vor die Arbeitshypothese, dass diese Verwirrung von Materie und Geist dadurch entsteht, dass die elementaren Operationen des Geistes, d.i. ‚Wahrnehmung‘ und ‚Gedächtnis‘, unter einen Hut gepackt werden. Unter einen Hut packen heißt hier: Beide werden als Operationen der Erkenntnis betrachtet.
Das ist alles erst einmal eine große Zumutung, so empfand ich es zumindest beim ersten Mal Lesen von Materie und Gedächtnis. Möchte man den Ausführungen Bergsons folgen – und das lohnt sich! – dann muss man die oben dargestellten Sachverhalte erst einmal so hinnehmen. Im Verlaufe der Argumentation von Bergson wird immer klarer, warum Wahrnehmung und Gedächtnis für ihn elementare Operationen des Geistes sind, warum Materialismus und Idealismus am gleichen Problem scheitern, etc. Bergson wird im Laufe seiner Argumentationen auf biologische und psychologische Forschung rekurrieren, wir haben es hier also nicht mit rein spekulativer Philosophie zu tun, auch wenn das vorerst so erscheinen mag. Es lohnt sich, seinen Gedankengängen zu folgen und auszuprobieren ob Bergson, wenn er mit seinen Darlegungen zu Materie und Geist fertig ist, die Welt besser erklären kann, als Materialismus und Idealismus das können.
Die ‚reine Wahrnehmung‘ als künstliches Arbeitskonstrukt
Um Bergson’s Gedankengängen folgen zu können, müssen wir uns zunächst der ersten elementaren Operation des Geistes zuwenden: der Wahrnehmung. Wir bekommen hier von Bergson die nächste Hypothese einfach ‚hingeknallt‘: Die Wahrnehmung sei immer schon durchdrungen von Erinnerungen, um das Phänomen des Geistes aber wirklich verstehen zu können, müssen wir Wahrnehmung und Erinnerung künstlich voneinander trennen.
Diese künstliche Trennung ergibt die ‚reine Wahrnehmung‘ und das ‚reine Gedächtnis‘. Haben wir diese beiden einmal künstlich getrennt, können wir getrennt voneinander ihre Funktionen untersuchen. Dieser analysierenden Vorgehensweise wird später wieder eine synthetisierende Vorgehensweise folgen, um uns schließlich ein vollständiges Bild von Matiere und Geist zu präsentieren.
Wenn wir wahrnehmen, so nehmen wir Bilder wahr. Wenn wir nichts
„von den Streitigkeiten über die Realität oder Idealität der Außenwelt irgendetwas wüßten (…), [d]a sehe ich mich denn umgeben von Bildern – das Wort im unbestimmtesten Sinne verstanden -, Bildern, die ich wahrnehme, wenn ich meine Augen öffne, und nicht wahrnehme, wenn ich sie schließe. All diese Bilder stehen mit allen ihren elementaren Bestandteilen in Wechselwirkung, nach konstanten Gesetzen, die wir die Naturgesetze nennen“ ((1), S. 1).
Hier haben wir den ‚Bildern‘ nächsten wichtigen Begriff von Materie und Gedächtnis: Dabei sollen wir Bilder im ganz trivialen Sinne verstehen, als das, was wir sehen, wenn wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Ein Bild wäre beispielsweise der Laptop an dem ich gerade diesen Blogartikel schreibe. Ein anderes Bild wäre die Wand hinter mir, das ich wahrnehmen könnte, würde ich meinen Kopf drehen. Dabei ist wichtig zu bemerken, dass diese Bilder nicht vom Bewusstsein, das sie wahrnimmt, abhängig sind. Die Wand hinter mir existiert auch unabhängig von mir und das Bild der Wand dadurch auch. Diese These, die unserem ‚common sense‘ entspricht (ich würde nicht denken, dass die Wand hinter mir auf einmal nicht mehr da ist, wenn ich sie nicht wahrnehme), müssen wir auch erst einmal so hinnehmen, bis sie später klarer werden wird.
In Kürze: Unsere Wahrnehmung von den Gegenständen ist bildhaft, die Bilder der Gegenstände existieren aber auch unabhängig von uns (vgl. (2), S. 111-113).
Unter der Gesamtheit aller Bilder, die das Universum darstellt, gibt es ein bestimmtes Bild, das sich von den anderen in einer gewissen Art und Weise abhebt: den eigenen Körper. Dieser hebt sich v.a. durch seine Handlungsmöglichkeiten von den anderen Bildern ab. Wir können mit unserem Körper auf Gegenstände Einfluss nehmen. Beispielsweise kann ich mithilfe der Finger meines Körpers diesen Blogartikel schreiben.
Wenn wir nun dieses besondere Bild, das wir unseren Körper nennen, genauer betrachten, so fallen uns womöglich 2 Dinge auf:
- Ist unser Körper auf Handlungen ausgerichtet. Je näher ein Gegenstand uns ist, desto größer ist unsere mögliche Art des Einwirkens auf ihn und desto intensiver sind unsere Affektionen. Mit Affektionen bezeichnet Bergson die ‚innere Wirkung‘, die ein Gegenstand im Körper hervorruft. Beispielsweise ruft der Laptop, an dem ich momentan diesen Artikel schreibe, intensivere Affektionen (Einnehmen eines größeren Bereichs meines Sichtfeldes, haptisches Feedback in meinen Fingern, etc.) hervor als das Nachbarshaus, das ich noch aus dem Augenwinkel wahrnehme. „Die Gegenstände, welclhen meinen Körper umgeben, reflektieren die mögliche Wirkung meines Körpers auf sie.“ ((1), S. 5).
- Nimmt unser Körper Reize aus der Umwelt (aus ihn umgebenden Bildern) auf, verarbeitet sie im Nervensystem und gibt Reize in Form von Bewegung wieder an die Umwelt ab (und verändert so die ihn umgebenden Bilder). „So ist mein Leib ein Gegenstand, bestimmt, andere Gegenstände zu bewegen, also ein Zentrum von Handlung“ ((1), S. 4). Die Nervenzellen des Körpers sind nur dazu da, die möglichen Wirkungen meines Körpers auf die ihn umgebenden Gegenstände abzubilden und in Form von Handlung zurückzuführen. Dabei unterscheiden sich das Gehirn und das Rückenmark nur in ihrer ‚Stärke der Indeterminiertheit‘. Mit ‚Stärke der Indeterminiertheit‘ ist die Komplexität möglicher Antworten gemeint. Da im Gehirn mehr Verknüpfungen von Nervenfasern bestehen als im Rückenmark, gibt es mehr mögliche Antworten auf einen einströmenden Reiz. Damit widerspricht Bergson dem Materialismus, der die unsere Vorstellungen von der Welt aus Gehirnprozessen ableiten will. Das Gehirn und das Rückenmark, das nur reflexhafte Bewegungen, aber keine Vorstellungen ermöglichen soll, unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Ermöglichung von irgendwelchen Vorstellungen. Man würde, sollte man solche Effekte postulieren, bei der Absurdität landen, dass unser Gehirn nur ein Bild unter vielen anderen Bildern des Universums ist. Es ist aber unlogisch, dass dieses eine Bild alle anderen Bilder noch einmal erzeugt oder reproduziert. Wenn unser Gehirn zerstört würde, würden alle anderen Bilder noch gleichbleiben und nicht mit dem Gehirn verschwinden, was dem Materialismus zufolge aber der Fall sein müsste.
Mit der Bildertheorie und der Betrachtung des Körpers als Handlungszentrum haben wir nun den Grundstein für die Überwindung materialistischer und idealistischer Positionen gelegt.
Wie? Wir können das Problem auch als folgendes betrachten: Wie ist es einerseits möglich, dass im Bewusstsein alle Bilder von einem Bild abhängig zu sein scheinen, während in der Wissenschaft alle Bilder in einer durch Kausalgesetze beschreibbaren Wechselwirkung gegeben sind?
Bergsons Antwort: Das Bewusstsein pickt sich aus der Totalität der Bilder, wie sie in der Wissenschaft beschrieben wird, einfach diejenigen heraus, die mögliche Wirkungen von ihm skizzieren! Von allen Bildern, die uns umgeben, nimmt der Körper nur diejenigen in der Wahrnehmung auf, auf die er verändernden Einfluss nehmen kann. So nehmen wir, im Gegensatz zu Bienen, beispielsweise keine Lichtwellen im ultravioletten Bereich wahr (3), obwohl diese ultravioletten Lichtwellen eigentlich zum Bild des Universums gehören.
Daraus folgt: unser Gehirn erzeugt keine Vorstellungen, es wählt aus Bildern aus. Es wird nur dasjenige ausgewählt, das uns in einem handlungstechnischen Sinne nützlich ist.
Damit haben wir dasjenige, was Bergson die ‚reine Wahrnehmung‘ nennt, gewonnen: die reine Wahrnehmung ist die Skizzierung der Anzahl möglicher Taten meines Körpers oder anders ausgedrückt: der Entwurf möglicher (aber noch nicht umgesetzter) Handlungen.
Diese ‚reine Wahrnehmung‘ folgt den Reizen, die vom zentripedalen Nervensystem an das Gehirn geleitet werden. Vom Gehirn aus wird mithilfe des zentrifugalen Nervensystems Handlung zurück in die Welt geführt. Wie das alles funktioniert, wird in einem der nächsten Artikel zu Bergson noch klarer!
Erklärungen durch das Konzept der ‚reinen Wahrnehmung‘
Wir haben in der Theorie der ‚reinen Wahrnehmung‘ bereits einige Erklärungen gewonnen:
- Wir bewegen uns zwischen Idealismus und Materialismus, indem wir die Wahrnehmung in die (mögliche) Handlung gelegt haben. Das erklärt, warum uns Teile von Kausalketten, die in der Wissenschaft abgebildet werden, entgehen können. Wir nehmen nur diejenigen Teile einer Kausalkette wahr, die uns Handlungsmöglichkeiten eröffnen.
- Das Verhältnis von Gehirn und Wahrnehmung lässt sich vereinfacht so darstellen: das Gehirn wird, wie unsere Wahrnehmung, gleichfalls von äußeren Gegenständen erschüttert und antwortet in motorischen Reaktionen, d.h. es setzt Wahrnehmung fort. Wahrnehmung = virtuelle (mögliche) Tätigkeit; Gehirn = begonnene Tätigkeit.
- Anhand der Theorie der ‚reinen Wahrnehmung‘ können wir Bergsons Theorie vom Geist (zur Erinnerung: Geist = reine Wahrnehmung + reines Gedächtnis) noch nicht beweisen. In der reinen Wahrnehmung läuft alles so ab, als wäre das Gehirn für die Wahrnehmungsbilder verantwortlich. Dies ist der Fall, da die Wahrnehmung den Reizen des zentripedalen Nervensystems folgt und die Handlung denen des zentrifugalen Nervensystems.
Es gilt hier noch einmal zu erinnern: die Theorie der ‚reinen Wahrnehmung‘ ist nur eine Arbeitshypothese. In Wirklichkeit ist die Wahrnehmung immer durchdrungen von Erinnerungen und der Geist beseteht aus (reiner) Wahrnehmung und (reinem) Gedächtnis. Zur Theorie des reinen Gedächtnisses kommen wir im nächsten Artikel über Henri Bergson.
von Timon Hruschka
Quellen:
(1) Bergson, H. (1982). Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Ullstein Materialien.
(2) Sinclair, M. (2020). Henri Bergson. Routledge
(3) https://academic.oup.com/jpe/article/13/3/354/5843813