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Henri Bergson (2): Die zwei Gedächtnisse

Bergson behauptet, das menschliche Gedächtnis nähme zwei Formen an. Damit wendet er sich – wieder einmal – gegen Materialisten und Idealisten. Welche Gedächtnisse hat der Mensch nach Bergson, und welche Argumente führt er dafür ins Feld?

Die wichtigsten Punkte:

  1. Bergson unterscheidet zwischen zwei Formen des Gedächtnisses: 1. dem motorischen Gedächtnis; 2. dem Bildergedächtnis.
  2. Das motorische Gedächtnis ist auf Handlungen ausgerichtet. Das Bildergedächtnis erfordert, dass wir uns vom aktuellen Handlungskontext zurückziehen.
  3. Wir greifen passiv auf das motorische Gedächtnis zu und aktiv auf das Bildergedächtnis.

Wiederholung

1) Bergson trennt den menschlichen Geist in Wahrnehmung und Gedächtnis. Diese Trennung unternimmt er um deren verschiedene Funktionen aufzuzeigen. In Wahrheit ist die Wahrnehmung aber immer vom Gedächtnis durchdrungen und jede Wahrnehmung wandert sofort ins Gedächtnis.

2) Die reine Wahrnehmung ist dafür zuständig, aus aktuellen Bewusstseinszuständen dasjenige herauszufiltern, was uns hilft, Handlungen durchzuführen. Wenn Martina beispielsweise einen Zebrastreifen überqueren möchte, so wird ihre Wahrnehmung vor allem auf kreuzende Autos ausgerichtet sein; nicht auf das schöne Haus neben dem Zebrastreifen.

Von der Wahrnehmung zum Gedächtnis

Von der reinen Wahrnehmung leitet Bergson zum Gedächtnis über: eine Form des Gedächtnisses besteht darin, die Motorik für Handlungen bereitzustellen. Handlungen waren wiederum Grundlage der Wahrnehmung.

Bergson skizziert das Geschehen so: ein Gegenstand führt zu einem bestimmten  Nervenreiz, der, falls er für eine bestimmte Handlung wichtig ist, wahrgenommen wird. Dieser Reiz wird vom menschlichen Nervensystem in einer bestimmten Art und Weise verarbeitet. Die Art und Weise der Verarbeitung hängt davon ab, welche motorischen Gewohnheiten sich im Laufe der Zeit eingeprägt haben. Betrachten wir beispielsweise Thomas: Thomas ist schon seit 10 Jahren Boxer. Sobald er im Ring steht und der gegnerische Handschuh auf sein Gesicht zufliegt, wird er die Fäuste hochreißen oder ausweichen. Betrachten wir im Gegensatz dazu Tibor: Tibor ist das erste Mal beim Boxtraining. Sein Trainer – eine wahrscheinlich fragwürdige Entscheidung, aber kritisieren wir ihn dafür nicht – schickt ihn als erstes mit einem erfahrenen Boxer in den Ring. Dieser boxt Tibor genauso wie Thomas‘ Gegner ins Gesicht. Da Tibor noch keine motorischen Gewohnheiten durch jahrelanges Training aufgebaut hat, wird er den Schlag wahrscheinlich mit voller Wucht abbekommen.

Die Beispiele stellen die erste Form des Gedächtnisses dar – eine passive und unbewusste. Diese Form des Gedächtnisses besteht nach Bergson aus einer bestimmten Verknüpfung von Nervenbahnen, die die Weiterleitung eines einströmenden Reizes im Gehirn bestimmen. Weiterleitung heißt hier: die Vorbereitung und Durchführung einer Handlung anhand des Reizes. Diese Form des Gedächtnisses wird im Gehirn eingespeichert.

Die zweite Form des Gedächtnisses

Dieser ersten Form des Gedächtnisses gegenüber steht eine zweite Form: das Bildergedächtnis. Das Bildergedächtnis kramt irgendwie – wie Bergson dieses Irgendwie versteht, erfahren wir im nächsten Blogartikel zu Bergson – Erinnerungen aus der Vergangenheit hervor und macht sie im Bewusstsein aktuell.

Für die Trennung dieser beiden Arten des Gedächtnisses führt Bergson zwei Beschreibungen an:

  1. Mirjam versucht, ein Gedicht von Edgar Allan Poe auswendigzulernen. Wie geht Mirjam vor? Sie wird die Gesamthandlung, d.i. der Vortrag des Poe Gedichts, zerlegen; kleinere Häppchen des Gedichts lassen sich besser lernen. Während sie die verschiedenen Häppchen lernt, wendet sie immer die gleiche Anstrengung an. Mit jeder Anstrengung, also z.B. einer Wiederholung eines Häppchens, wird die Gesamthandlung verbessert. Irgendwann ist der Vortrag in einer Art Mechanismus gespeichert, den Mirjam abrufen kann, sobald sie es möchte. Wenn Mirjam den Mechanismus abruft, ist das Abrufen selbst nicht mehr mit einer Anstrengung verbunden. Die Anstrengung liegt im Erwerb des Mechanismus.
  2. Demgegenüber stünde die Erinnerung an die erste Lektüre des Gedichts. Diese besitzt keine Merkmale irgendeiner Gewohnheit und führt auch nicht zu einem Mechanismus, den Mirjam irgendwie abrufen könnte. Es ist eine Art eingeprägtes Bild, das von bestimmten Impulsen ausgelöst wird, und dem weitere Lektüren des Gedichts nichts mehr hinzufügen. Das Hervorholen von Bilderinnerungen ist immer mit einer Anstrengung verbunden. Wir müssen uns aktiv in die Vergangenheit versetzen, um uns an ein Ereignis zu erinnern.

Bergson macht einen weiteren Unterschied sichtbar:

  1. Eine Handlung findet immer in einer gewissen Zeit statt. Das motorische Gedächtnis zeigt sich in Handlungen und damit auch immer in einer bestimmten zeitlichen Ausdehnung.
  2. Eine Vorstellung des Bildergedächtnisses nimmt keine bestimmte Zeit ein. Mirjam könnte sich stundenlang an ihre erste Lektüre eines Poe Gedichts erinnern; oder nur ein kurzes impulsives Aufblitzen der Erinnerung fühlen.

Die Verbindung der beiden Gedächtnisse

Bergsons’s Arbeit in Materie und Gedächtnis besteht oft darin, Sachverhalte künstlich zu trennen und im Nachhinein wieder zusammenzufügen. In der Theorie von den zwei Gedächtnissen verhält es sich ähnlich. Die Gedächtnisse agieren nicht getrennt voneinander, sondern während das motorische Gedächtnis uns dabei hilft, Handlungen auszuführen, speichert das Bildergedächtnis dauerhaft Bilder. In der Vergangenheit haben alle von uns gelernt, sich durch die Welt zu bewegen – sei es zu Fuß oder mit einem Gefährt. Während wir diesen Mechanismus abrufen, indem wir beispielsweise eine fremde Stadt besichtigen, speichert unser Bildergedächtnis dauerhaft Bilder ein; z.B. von Sehenswürdigkeiten in dieser Stadt.

Im alltäglichen Leben unterscheiden sich die beiden Formen des Gedächtnisses vor allem in der Art, wie wir sie abrufen: das motorische Gedächtnis passiv; das Bildergedächtnis aktiv – obwohl manchmal impulshaft!

Bergson macht dies am Beispiel von Mnemotechniken klar. Ziel dieser Techniken ist es, sich soweit wie möglich aus dem aktuellen Handlungskontext zu entfernen. Indem wir uns von der aktuellen Handlung entfernen und aktiv versuchen, das Bildergedächtnis hervorzurufen, können wir uns an nicht handlungsrelevante Dinge erinnern: beispielsweise alle vergangenen Präsidenten von Amerika.

Kommen wir zurück zu Bergson’s Hauptmotivation in Materie und Gedächtnis: die Versöhnung von Materialismus und Idealismus. Bergson wirft beiden Strömungen vor, die zwei Gedächtnisse nicht zu unterscheiden. Während der Materialist alle Erinnerungen auf in Nervenzellen eingespeicherte Verhaltendispositionen reduziert, ist der Idealist der Meinung, alle Motorik entstehe aus eingespeicherten Bildern. Beides ist nach Bergson falsch! Die verschiedenen Arten des Gedächtnisses durchdringen einander, lassen sich aber theoretisch trennen. In einem bestimmten Moment herrscht eher das motorische Gedächtnis vor, z.B. wenn wir Sport treiben. In anderen Momenten kann das Bildergedächtnis vorherrschen, z.B. wenn wir uns an unser erstes Sporttraining erinnern.

Wir haben jetzt eine Theorie des Gedächtnisses gewonnen. Zur Erinnerung: Geist = Wahrnehmung + Gedächtnis. Wie verbindet Bergson jetzt Wahrnehmung und Gedächtnis?

Die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis

Der Schlüssel liegt nach Bergson im Phänomen des ‚Wiedererkennens‘. Hier entscheidet sich, wie wir die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis verstehen müssen. Grundlegend gibt es laut Bergson zwei Alternativen:

  1. Wenn wir Dinge wiedererkennen, versetzen wir unsere Wahrnehmung ‚in eine frühere Umgebung‘. Wir assoziieren ehemalige Wahrnehmungsbilder. Das war die vorherrschende psychologische Theorie zu Bergson’s Zeiten.
  2. Die Wahrnehmung holt aus dem Gedächtnis eine Erinnerung, die ihr ähnelt, um sie in eine Handlung zu überführen. Das ist Bergson’s favorisierte Erklärung.

Der Unterschied zwischen den beiden Alternativen liegt in ihrem Bezug auf (k)eine Handlung. Die erste Alternative behauptet, dass die bloße Wahrnehmung eines Gegenstandes uns an Vergangenes erinnere. Die zweite Alternative behauptet, dass die momentane Handlungssituation maßgeblich beeinflusst, was wir erinnern.

Welche der beiden richtig ist, entscheidet die Empirie. Bergson schildert einen Fall von Seelenblindheit – eine bestimmte Erkrankung bei denen die Erkrankten sich an einfachste Dinge nicht erinnern können (S. 109):

In einem von Wilbrand studierten Fall konte die Kranke mit geschlossenen Augen die Stadt, in der sie wohnte, beschreiben und in der Phantasie darin spazierengehen; sobald sie jedoch einmal auf der Straße war, erschien ihr alles neu: Sie erkannte nichts wieder und es gelang ihr nicht, sich zu orientieren.

Bergson führt mehrere weitere Beispiele an, um seinen Punkt zu unterstreichen: Das Bewahren einer Erinnerung genügt nicht, um etwas Wiederzuerkennen! Hätte die erste Alternative recht, so müsste das fehlende Wiedererkennen von fehlenden Erinnerungen begleitet werden. Der Fall der Seelenblindheit zeigt jedoch: Nicht die Erinnerungen fehlen; den Erkrankten fehlt die Möglichkeit, einen Bezug zur aktuellen Handlung herzustellen.

Daraus ergeben sich zwei Folgerungen:

  1. Das Wiedererkennen äußert sich immer in einem bestimmten (motorischen!; siehe motorisches Gedächtnis) Umgang mit einer Sache. Es findet nur im Zusammenhang mit Handlungen statt. Das heißt nicht, dass das Bildergedächtnis nicht auch eine Rolle spielt. Wie wir oben gesehen haben, sind beide Arten in ständiger Wechselwirkung.
  2. Das Wiedererkennen findet meist statt, noch bevor wir es aktiv denken. Allein die Gegenwart bestimmter Gegenstände führt dazu, dass wir ein unbestimmtes Gefühl von Vertrautheit empfinden. Betrachten wir beispielsweise Simon, der zum ersten Mal in eine Stadt zurückkehrt, in der er schon lange nicht mehr war. Simon erkennt, während er durch die Stadt läuft, ein Haus wieder. Dieses Wiedererkennen impliziert bestimmte Handlungen, wie z.B., dass Simon die Straße rechts des Hauses nehmen müsste, um zum Marktplatz zu gelangen. Noch bevor ihm das einfällt, wird er das Gefühl der Vertrautheit empfunden haben – zumindest, wenn wir Bergson glauben.

Das Wiedererkennen ist ein Phänomen, das hauptsächlich das motorische Gedächtnis betrifft. Wenn wir es nicht schaffen, bestimmte Probleme durch unser motorisches Gedächtnis zu lösen, schaltet sich das Bildergedächtnis ein.

Wie das gelingt, erfahrt Ihr im nächsten Artikel zu Bergson.

 

von Timon Hruschka

 

Quelle:

Bergson, H. (2015). Materie und Gedächtnis (neu übersetzt von Margerethe Drewsen). Felix Meiner.