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Panoptismus: Von Gefängnissen und der modernen Gesellschaft

Das Panopticon

Jeremy Bentham (1748-1832) dürfte einigen als Begründer des klassischen Utilitarismus bekannt sein (1). Etwas weniger bekannt: Seine Entwürfe zu einer Gefängnisarchitektur, die er in einer Serie von Briefen entwickelte (2). Interessant daran ist, dass diese prinzipiell auch ohne Wächter:innen funktioniert. Wie sieht diese Panopticon oder Panoptikum genannte Bauweise aus?

Das Panopticon besteht aus einem ringförmigen Gebäude mit einem Wachturm in der Mitte. Der Ring ist in Zellen unterteilt, alle durch Wände voneinander getrennt. Jede Zelle besitzt zwei Fenster; je eines nach innen in Richtung des Turmes und eines nach außen. Vom Turm aus kann man so durch die Zellen hindurch nach außen sehen. Die Gefangenen zeichnen sich klar vor dem Außenlicht ab. Im Wachturm sitzt man dagegen im Dunkeln, vor den Blicken der Gefangenen verborgen (3).

Lepra und Pest

Diese ungleiche Beziehung zwischen den bewachenden und den bewachten Menschen interessierte den französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault (1926-1984) in seiner einflussreichen Schrift Überwachen und Strafen (3).

Foucault unterscheidet historisch zwischen zwei Modellen, wie man mit zu isolierenden Menschen umgegangen ist: Leprakranke wurden kollektiv verbannt. Was sie „draußen“ machten, war dann egal, es wurde nicht differenziert, es war eine Masse an Menschen – Foucault spricht von einer „Stigmatisierung“ der Lepra. Anders sah es im 17. Jahrhundert aus, als man mit der Pest zu kämpfen hatte. Aus der Masse an Menschen wurde eine Ansammlung von Individuen. Pestkranke versuchte man zu ordnen, in Quarantäne zu bringen und zu überwachen. In Foucaults Worten fand eine „Analyse der Pest“ statt. Jede einzelne Person in einem Stadtteil wurde registriert und täglich kontrolliert. Verstöße gegen die gesetzte Ordnung wurden hart bestraft. Um die Ordnung zu halten, benötigte man einen immens aufwendigen Apparat mit Intendanten, Gardesoldaten, Syndizi, die die Bevölkerung kontrollierten und disziplinierten (3).

Foucault: Der Weg zum Panoptismus

Schauen wir nun ins Panopticon. Auch hier befinden sich die Gefangenen unter ständiger Kontrolle und Beobachtung – allerdings nicht durch einen riesigen Disziplinierungsapparat. Durch die zentrale Lage des Wachturms ist jede Gefängniszelle von diesem aus einsehbar. So genügt im Panopticum zur Überwachung bereits eine einzelne Person, die sich im Wachturm befindet und die Gefangenen beobachtet. Genau genommen muss nicht einmal jemand im Wachturm anwesend sein – die Gefangenen können sowieso nicht beurteilen, ob sie gerade beobachtet werden. Die Gefangenen sehen nicht, aber werden gesehen. Sie sind „Objekt einer Information, niemals Subjekt einer Kommunikation“ (3). Die Kontrolle durch die Aufseher:innen, die Macht, ist ständig „sichtbar, aber uneinsehbar“. Die Gefangenen müssen jederzeit davon ausgehen, dass sie unter Beobachtung stehen. Dadurch findet eine Selbstdisziplinierung statt: Selbst wenn keine Aufsicht anwesend ist, verhalten sich die Menschen in den Zellen konform (4). Ein tatsächliches Eingreifen durch Wachleute ist dadurch nur selten nötig.

Aus einem aufwendigen System zur Überwachung und Disziplinierung wird so eine automatisierte und ökonomische Kontrolle, die ohne viel Zutun funktioniert. Mit der Einführung von Gefängnissen wurde ein Wandel vollzogen, weg von einer öffentlichen Strafe (man denke an die Schauprozesse, bei denen Menschen vor großem Publikum hingerichtet wurden) (4).

Panoptismus heute

Das Prinzip ist auf viele Situationen übertragbar. Tatsächlich hatte Jeremy Bentham die Idee zu dem Architekturprinzip nicht selbst. 1785 besuchte er seinen Bruder Samuel (5). Dieser war in Russland mit der Aufgabe betraut worden, Fabrikarbeitende zu koordinieren. Er ärgerte sich über fehlende Disziplin unter ihnen und führte für neue Gebäude das Prinzip eines Rundbaus mit einem Beobachtungspunkt in der Mitte ein. Jeremy Bentham war, als er seinen Bruder besuchte, so beeindruckt von der Effizienz, die alleine diese Bauweise hervorbrachte (5). Das panoptische Prinzip, die Selbstdisziplinierung durch ständig mögliche Sichtbarkeit, kann, so Foucault, auf jeglichen Machtapparat angewandt werden (3). Es bringt eine präventive Wirkung mit sich, ohne eine tatsächliche Strafe zu benötigen. So wird der „Schüler zum Eifer“ oder der Kranke im Hospital „zur Befolgung der Anordnungen“ gezwungen (3).

Sozialwissenschaftler:innen haben den Panoptismus in verschiedenste Zusammenhänge gebracht. Er dient als historischer Ausgangspunkt zur Betrachtung von Bestrafungspraktiken oder einer Überwachungsgesellschaft (4). Nehmen wir als Beispiel Überwachungskameras. In London findet man eine der höchsten Überwachungskameradichten der Welt – auf 15 Einwohner:innen kommt eine Kamera (6). Im Jahr 2010 tauchte ein Mensch, der einen Tag lang in London unterwegs war, auf 300 Videos auf (7). Wenn man auf Schritt und Tritt unter Beobachtung steht – zumindest potenziell, denn so viel Videomaterial müssen die Polizeibeamt:innen erstmal durchsehen (7) – kann das das Verhalten der Menschen beeinflussen. Die Parallele zwischen dem Wachturm im Panopticon und der Überwachungskamera im Kaufhaus ist schwer zu übersehen.

Auch bei der Vorratsdatenspeicherung lassen sich panoptische Züge finden (8). Bei genauerer Betrachtung findet man diese laut Shearing und Stenning (9) selbst in Disney World. Security-Angestellte, durch Kostüme nur bedingt als solche erkennbar, schreiten bei unerwünschtem Verhalten der Besucher:innen ein. Nötig ist das aber eher selten – durch zahlreiche Maßnahmen, die zur Selbstregulation durch die Besuchenden führen. Prävention ist bekanntlich besser als Intervention. Wie sehen diese Maßnahmen aus? Schon beim Parken werden Ankommende daran erinnert, sich den Parkplatz zu merken („Donald-Duck-Parkplatz, Reihe 1“). Automatische Ansagen erinnern daran, das Auto abzuschließen. Blumenkästen versperren elegant den falschen Weg, sodass Besuchende eigentlich gar nicht falsch abbiegen können. Springbrunnen ziehen die Menschen dagegen in die richtige Richtung. Die Menschen werden dazu gebracht, aus eigenem Antrieb das zu tun, was Disney World möchte. Selbst Fotos werden besonders dort gemacht, wo es erwünscht ist. Ausgewiesene „Fotospots“ sollen das sicherstellen. In diesen Bereichen ist es besonders schön und es sind z.B. keine Mülleimer oder andere weniger fotogene Objekte zu sehen.

Dass eine Form von Macht ausgeübt wird, kommt besonders dann zum Vorschein, wenn Besuchende nicht konformes Verhalten zeigen (9). Ein Autor beschreibt etwa, wie seine Tochter Blasen am Fuß bekam und deshalb die Schuhe auszog. Das ist nicht erlaubt – sofort stand ein Disney World Angestellter vor ihnen und bestand darauf, sie solle die Schuhe wieder anziehen – sonst müsse er sie aus dem Park herausbringen.

Fassen wir zusammen:
  • Das Panopticon war eine Gefängnisarchitektur, die von Jeremy Bentham entwickelt wurde.
  • Wichtigstes Merkmal ist, dass Gefangene nicht wissen, ob sie beobachtet werden, aber immer davon ausgehen müssen – so verhalten sie sich konform und es findet eine Art Selbstdisziplinierung statt.
  • Dieses Prinzip wird Panoptismus genannt und ist auf viele Situationen und Institutionen anwendbar: Schulen, Fabriken, Krankenhäuser und selbst Disney World.

von Benjamin Schätzlein

Quellen:

(1) https://www2.klett.de/sixcms/list.php?page=lexikon_suchergebnis_artikel&extra=Leben%20leben-Online&artikel_id=662898&inhalt=&meinesuche=Lexikon%20der%20Philosophen%20und%20Denker

(2) https://www.ics.uci.edu/~djp3/classes/2012_01_INF241/papers/PANOPTICON.pdf

(3) https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-658-06504-1_20.pdf

(4) https://doi.org/10.1111/j.1467-954X.2012.02126.x

(5)  https://www.researchgate.net/publication/265881317_Samuel_Bentham%27s_Panopticon

(6) https://de.statista.com/infografik/22350/ueberwachunsgkameras-in-ausgewaehlten-grossstaedten/

(7) https://www.sueddeutsche.de/digital/ueberwachungskameras-in-grossbritannien-die-toten-augen-von-london-1.199517

(8) https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/47847/pdf/Moritz_Tremmel_Die_Vorratsdatenspeicherung_und_der_Panoptismus.pdf?sequence=1&isAllowed=y

(9) https://www.popcenter.org/sites/default/files/problems/crimes_against_tourists/PDFs/Shearing_Stenning_1997.pdf