Über Facebook und andere soziale Netzwerke wird viel geschimpft: Gerade auf Jugendliche würden sie einen negativen Einfluss ausüben. Stimmt das?
Die wichtigsten Punkte:
- Im Jugendalter bilden wir am stärksten unsere Identität aus. Dieser Prozess basiert zu großen Teilen auf sozialer Interaktion. Soziale Interaktion findet immer mehr online über Social-Media statt.
- Social-Media hat Einfluss auf die Bildung unserer Identität. In diesem Artikel fokussieren wir uns auf die Selbstkonzeptklarheit, das heißt: das Ausmaß, in dem unser Bild von uns selbst widerspruchsfrei und stabil über die Zeit hinweg ist. Je mehr wir soziale Medien nutzen, desto geringer wird unsere Selbstkonzeptklarheit.
- Das ist wichtig, denn: Selbstkonzeptklarheit hilft uns, mit Stress und Krisen umzugehen. Beispielsweise hilft eine hohe Selbstkonzeptklarheit dabei, die negativen Folgen eines Lockdowns zu verarbeiten.
Nutzung sozialer Netzwerke
Viele Deutsche sind mindestens einmal pro Woche auf sozialen Netzwerkseiten unterwegs. Das hat die Online-Studie von ARD und ZDF 2021 ergeben. Hier wurden insgesamt 3003 Personen aus einer repräsentativen deutschsprachigen Stichprobe befragt. Ergebnis: Um die 65 Prozent der 14-Jährigen bis 29-Jährigen nutzen mindestens einmal pro Woche Instagram; rund 44 Prozent Facebook und rund 41 Prozent Snapchat.
Doch was macht das mit uns?
Gerade junge Menschen sind in den sozialen Medien aktiv. Und gerade in jungen Jahren stellen sich Viele die Frage: „Wer bin ich eigentlich?“
Die Frage nach der Identität
Diese Frage bezeichnet man in der Psychologie auch als Frage nach der eigenen Identität. Versucht einmal, Euch diese Frage genau jetzt zu beantworten. Schwierig, nicht?
Häufig antworten Menschen mit ihrem Namen; Aktivitäten, denen sie gerne nachgehen und ihren Gruppenzugehörigkeiten: „Ich bin der Udo. Ich singe gerne. Ich bin im Verein griechischer Wein-Fans.“ Was genau diese eigene Identität eigentlich ausmacht, bleibt aber nebulös.
Dem Psychologen Erik Erikson zufolge ist die Frage nach der Identität eine, die wir unser ganzes Leben lang versuchen zu beantworten. Im Laufe unseres Lebens begegnen wir verschiedenen Herausforderungen oder sogar Krisen. An diesen Krisen wachsen wir nach Erikson: indem wir die Krisen meistern, lernen wir bestimmte Verhaltensweisen oder Einstellungen, auf die wir dann ein Leben lang zurückgreifen können – als Bewältigungsmechanismen.
Die Reihenfolge der Krisen im Verlaufe eines Lebens steht nach Erikson fest. Auf der fünften von acht Stufen der Entwicklung eines Menschen steht dabei die Frage nach der Identität im Mittelpunkt. Auf dieser fünften Stufe – und damit im Jugendalter – findet sich nach Erikson die Krise zwischen Identität und Identitätsdiffusion: Wir versuchen die Frage zu beantworten, wer wir sind und wie wir in die Gesellschaft passen.
Soziale Prozesse
Bei der Beantwortung der Frage wer wir sind, spielen soziale Prozesse eine entscheidende Rolle: Über das Feedback von Anderen lernen wir, wie wir von außen wahrgenommen werden. Psycholog:innen nennen das den Prozess der ‚Verifikation‘: Wir haben ein gewisses Selbstkonzept und das wird von Anderen entweder bestätigt oder widerlegt. Ein Selbstkonzept wird meist einfach als Menge aller Überzeugungen definiert, die wir von uns selbst haben (Stets & Serpe, 2013). Die Überzeugung: „Ich bin durchschnittlich intelligent“, wäre beispielsweise Teil des Selbstkonzepts. Die Überzeugung: „Sokrates war ein intelligenter Mensch“, ist kein Teil des Selbstkonzepts – es geht ja um Sokrates und nicht um einen selbst.
Dabei entstehen interessanterweise immer negative Emotionen, wenn unser Selbstbild nicht bestätigt wird – auch wenn das in einer eigentlich aufbauenden Art und Weise geschieht. Wenn Peter sich selbst für einen schlechten Studenten hält und seine Freundin Maria ihm widerspiegelt, dass er doch ein sehr guter Student sei, wird er trotzdem negative Emotionen empfinden: weil sein Selbstbild nicht bestätigt worden ist.
Eine klassische Studie von Swann et al. (1992) fand dabei beispielsweise, dass Menschen sich eher solche Ehepartner:innen suchen, die ihr Selbstkonzept bestätigen: im Positiven wie im Negativen. Das heißt, Menschen, die ein schlechtes Bild von sich selbst haben, suchen sich eher Ehe-partner:innen, die sie niedermachen. Denn das bestätigt das Selbstkonzept.
Klingt komisch, ist aber so, weil das Selbstkonzept ein wichtiger Bestandteil unseres alltäglichen Lebens ist. In unserem Selbstkonzept werden die Reaktionen Anderer auf unser Verhalten „eingespeichert“. Das heißt wiederum, dass wir anhand unseres Selbstkonzeptes vorhersehen – und damit auch beeinflussen – können, wie Andere uns wahrnehmen. Bekommen wir ständig vom eigenen Partner widersprüchliche Informationen bezüglich unseres Selbstkonzeptes widergespiegelt, wird es schwierig, genau vorherzusehen, wie Andere uns wahrnehmen werden. Und damit wird es auch schwierig, das eigene Verhalten daran auszurichten.
Selbstkonzeptklarheit
Doch zurück zum eigentlichen Thema: Das Selbstkonzept wird stark durch soziale Interaktionen beeinflusst. Und wie wir eingangs gesehen haben, finden heutzutage viele soziale Interaktionen über Social-Media statt: Soziale Medien beeinflussen, wie wir unsere Identität ausbilden.
Dabei gibt es verschiedene Facetten, die alle zu beleuchten für einen einzigen Blogartikel zu viele wären. Deswegen lege ich heute den Fokus auf Social-Media und Selbstkonzeptklarheit. Was ist das jetzt schon wieder?
Selbstkonzeptklarheit ist ein Teil unseres Selbstkonzeptes. Selbstkonzeptklarheit beschreibt wie einheitlich das Bild ist, das wir von uns selbst haben, und wie stabil es über die Zeit hinweg ist. Ein niedrige Selbstkonzeptklarheit hätte man beispielsweise, wenn man sich in einem Moment für durchschnittlich intelligent, ein paar Tage später für unglaublich dumm und wieder ein paar Tage später für hochbegabt hält. Ein weiteres Beispiel: Am Montag ist mein Selbstwert niedrig, dienstags ist er okay, donnerstags ist er auf einmal sehr hoch, bevor er am Wochenende wieder absackt.
Das Konzept der Selbstkonzeptklarheit geht zurück auf die Psychologin Jennifer Campbell (1996). Sie definiert in einem viel zitierten Fachartikel Selbstkonzeptklarheit wie folgt:
„Selbstkonzeptklarheit ist definiert als das Ausmaß in dem die Inhalte des Selbstkonzepts eines Individuums (z.B. wahrgenommene Persönlichkeitsmerkmale) klar und selbstbewusst definiert, innerlich konsistent und zeitlich stabil sind.“
Schauen wir uns die Definition genauer an: Bei Selbstkonzeptklarheit geht es um eine Art Metaperspektive auf das Selbstkonzept. Das gleiche Selbstkonzept kann in verschiedenen Selbstkonzeptklarheiten vorliegen: also mehr oder weniger stabil über die Zeit hinweg sein. Interessant dabei: Menschen, die einen negativen Selbstwert haben, haben kein klares Konzept davon. Wer einen niedrigen Selbstwert hat, hat keine klar und selbstbewusst definierten negativen Eigenschaften, sondern meist ein recht diffuses Bild des eigenen Selbstkonzeptes.
Warum ist Selbstkonzeptklarheit wichtig?
Selbstkonzeptklarheit und Selbstwert hängen zusammen: dieser Befund ist häufig repliziert worden. Selbstkonzeptklarheit hat aber noch weitere, sehr wichtige Vorteile: Alle von uns können sich wahrscheinlich noch an die Lockdowns im März 2020 erinnern. Mit der Unsicherheit der Situation und der Abgeschnittenheit von der Außenwelt gingen für viele – wahrscheinlich für die meisten Menschen – starke negative Emotionen wie Stress, Einsamkeit und Depressivität einher.
Eine Studie von Alessandri et al. (2021) konnte zeigen, dass Menschen mit höherer Selbstkonzeptklarheit weniger negativen Affekt während des Lockdowns berichteten. Die Autor:innen hatten an 15 Tagen den negativen Affekt der insgesamt 287 italienischen Proband:innen abgefragt. Ab Tag 7 der Studie wurde in Italien der erste Lockdown verhängt. Es zeigte sich, dass Menschen mit niedriger Selbstkonzeptklarheit am härtesten vom Lockdown betroffen waren: sie berichteten weitaus größeren negativen Affekt als Menschen mit hoher Selbstkonzeptklarheit. Ein weiteres interessantes Ergebnis: Diejenigen, die eine hohe Selbstkonzeptklarheit hatten, zeigten zwar einen großen Anstieg von negativem Affekt zu Beginn des Lockdowns: dieser negative Affekt flachte aber auch schnell wieder ab – anders als bei Menschen mit niedriger Selbstkonzeptklarheit.
Woran liegt das? Eine hohe Selbstkonzeptklarheit hilft uns, mit Stress und Krisen besser umzugehen. Je höher das Selbstkonzept ist, desto weniger können uns Krisen aus dem Gleichgewicht bringen: denn unser Bild von uns selbst hängt weniger stark von äußeren Faktoren ab. Trotz einer Krisensituation können wir „uns treu bleiben“.
Auch trägt Selbstkonzeptklarheit zu einer verbesserten Fähigkeit der emotionalen Regulierung bei: Wer ein starkes Selbstkonzept hat, kann besser auf interne Ressourcen zur Bekämpfung negativer Emotionen zurückgreifen (Light, 2017; Parise, 2019).
Der Einfluss sozialer Medien auf die Selbstkonzeptklarheit
Doch was hat das jetzt mit den sozialen Medien zu tun? Die Selbstkonzeptklarheit ist Teil unserer Identität, auch wenn sie eine Metaperspektive auf das Selbstkonzept einnimmt. Und wie alle Teile unserer Identität ist auch die Selbstkonzeptklarheit abhängig von sozialer Interaktion – heute weitgehend auch über soziale Medien.
Nun, welchen Einfluss können soziale Medien auf die Selbstkonzeptklarheit haben? Valkenburg & Peter (2011) haben zwei sich widersprechende Hypothesen herausgearbeitet:
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Die Selbstkonzept-Fragmentierungs-Hypothese: “Die Fragmentierungshypothese besagt, dass die Leichtigkeit, mit der mögliche Identitäten online geschaffen werden können, die Persönlichkeit von Jugendlichen fragmentieren kann. Darüber hinaus können die vielen Möglichkeiten für neue Beziehungen sie mit Menschen und Ideen konfrontieren, die ihre bereits zerbrechlichen Persönlichkeiten weiter zersetzen können.” (Valkenburg & Peter, S. 123)
Die Fragmentierungshypothese besagt also im Grunde, dass wir im Internet verschiedene Identitäten annehmen, verschiedene Gruppenzugehörigkeiten fühlen und unterschiedliches Feedback zu unseren sozialen Rollen bekommen. Das führe dazu, dass unser Selbstkonzept weniger klar ausgebildet werden kann.
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Die Selbstkonzept-Einheits-Hypothese: “Die Hypothese der Einheit des Selbstkonzepts besagt, dass das Internet Jugendlichen mehr Möglichkeiten als je zuvor bietet, mit Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zu interagieren. Infolgedessen können Jugendliche ihre Identitäten anhand eines weitaus größeren sozialen Resonanzbodens überprüfen, was wiederum die Klarheit ihres Selbstkonzepts fördern kann.“
Appel et al. (2018) haben sich die beiden Hypothesen einmal genauer angeschaut und in drei Studien Evidenz für die Fragmentierungs-Hypothese gefunden. Dabei haben sie zwei Studien durchgeführt, bei denen sie zu jeweils einem Messzeitpunkt Selbstkonzeptklarheit und die Intensität der Facebook-Nutzung der Proband:innen erhoben haben. Je intensiver die Proband:innen Facebook nutzten, desto niedriger fiel die Selbstkonzeptklarheit aus.
Solche sogenannten „cross-sectional studies“ lassen allerdings keinen Rückschluss auf Kausalität zu: es könnte ja auch sein, dass Leute mit niedriger Selbstkonzeptklarheit häufiger Facebook nutzen.
Daher haben Appel et al. (2018) eine weitere Studie durchgeführt: Dieses Mal im „longitudinal design“. Heraus kam, dass eine intensivere Facebook-Nutzung zu einem späteren Zeitpunkt eine niedrigere Selbstkonzeptklarheit vorhersagt. Das umgekehrte war nicht der Fall. Je häufiger wir also Facebook nutzen, desto unklarer wird unser Selbstkonzept. Das liegt vermutlich daran, dass wir in verschiedenen Gruppen unterschiedliches Feedback bekommen; mit verschiedenen Identitäten experimentieren und Feedback bekommen, dass nur selektiv auf bestimmte Aspekte unserer Persönlichkeit eingeht, die wir online präsentieren.
Die Ergebnisse konnten auch 2021 in einer Studie von Yang et al. repliziert werden. Yang et al. haben zusätzlich noch sogenannte „Mediationsvariablen“ erhoben. Solche Variablen zeigen, dass eine Variable eine andere beeinflusst, die dann wiederum einen Effekt auf eine dritte Variable hat (siehe Bild). In der Studie von Yang wurden neben den bekannten Variablen Selbstkonzeptklarheit und Intensität der Nutzung sozialer Medien (hier: „WeChat“, weil chinesische Stichprobe) noch soziale Unterstützung und Selbstwert mit erhoben.
Interessanterweise erhöht die Nutzung sozialer Medien die wahrgenommene soziale Unterstützung, dadurch den Selbstwert und dadurch auch die Selbstkonzeptklarheit. Der sogenannte „direkte Effekt“ der Nutzung sozialer Medien auf die Selbstkonzeptklarheit ist wie bei Appel et al. (2018) negativ gewesen. Unter den Quellen findet sich noch ein kleiner Kommentar dazu von mir, für alle die es statistisch ein wenig genauer wissen wollen.
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass soziale Medien einen Einfluss darauf haben, wie wir unsere Identität ausbilden. Gerade Jugendliche nutzen in einer für die Identitätsbildung wichtigen Zeit viele soziale Medien. Je mehr man soziale Medien nutzt, desto geringer wird die eigene Selbstkonzeptklarheit. Das ist wichtig, da ein klares Selbstkonzept uns meist hilft, Krisen und Stresssituationen besser zu bewältigen.
Quellen
Alessandri, G., De Longis, E., Golfieri, F., & Crocetti, E. (2021). Can self-concept clarity protect against a pandemic? A daily study on self-concept clarity and negative affect during the COVID-19 outbreak. Identity, 21(1), 6-19.
Appel, M., Schreiner, C., Weber, S., Mara, M., & Gnambs, T. (2018). Intensity of Facebook use is associated with lower self-concept clarity. Journal of Media Psychology, 30(3), 160-172.
Campbell, J. D., Trapnell, P. D., Heine, S. J., Katz, I. M., Lavallee, L. F., & Lehman, D. R. (1996). Self-concept clarity: Measurement, personality correlates, and cultural boundaries. Journal of Personality and Social Psychology, 70(1), 141-156.
Erikson, E. H. (1968). Identity, Youth and Crisis. Norton.
Light, A. E. (2017). Self-concept clarity, self-regulation, and psychological well-being. In J. Lodi-Smith, K. G. Demarree (Eds.), Self-Concept Clarity (pp. 177-193). Springer.
Parise, M., Canzi, E., Olivari, M. G., & Ferrari, L. (2019). Self-concept clarity and psychological adjustment in adolescence: The mediating role of emotion regulation. Personality and Individual Differences, 138, 363-365.
Stets, J. E., & Serpe, R. T. (2013). Identity theory. In J. DeLamater, & A. Ward (Eds.), Handbook of Social Psychology (pp. 31-60). Springer.
Swann Jr, W. B., Hixon, J. G., & De La Ronde, C. (1992). Embracing the bitter “truth”: Negative self-concepts and marital commitment. Psychological Science, 3(2), 118-121.
Valkenburg, P. M., & Peter, J. (2011). Online communication among adolescents: An integrated model of its attraction, opportunities, and risks. Journal of adolescent health, 48(2), 121-127.
Yang, Q., van den Bos, K., Zhang, X., Adams, S., & Ybarra, O. (2021). Identity lost and found: Self-concept clarity in social network site contexts. Self and Identity, Advance online publication.
Anmerkung
Anmerkung zu den Studien von Appel et al (2018) und Yang et al. (2021): Die in Mediationsanalysen bewanderten Leser:innen werden es schon gemerkt haben. So ganz hat die Studie von Yang et al. die Studie von Appel et al. nicht repliziert. Bei Appel et al. war nämlich der totale Effekt der Nutzung sozialer Netzwerke (Facebook) auf die Selbstkonzeptklarheit negativ. Der totale Effekt ist der Effekt, bei dem alle (möglichen) Mediatoren mit eingerechnet werden. Bei Yang et al. ist der totale Effekt nicht signifikant gewesen, nur der direkte Effekt: Das heißt, der Effekt der sozialen Netzwerknutzung (WeChat), nachdem die Mediationsvariablen (soziale Unterstützung und Selbstwert) herausgerechnet worden sind. Das spricht dafür, dass entweder WeChat positivere Einflüsse auf soziale Unterstützung als Facebook hat oder kulturelle Faktoren eine Rolle spielen: soziale Unterstützung beispielsweise im asiatischen Raum auch online empfunden wird, während das im europäischen Raum weniger der Fall sein könnte. Hier gilt es weiter zu forschen: einerseits zu den Einflüssen verschiedener Medien, andererseits zu kulturellen Einflüssen.
Nichtsdestotrotz ist der negative Effekt der Nutzung sozialer Netzwerke auf die Selbstkonzeptklarheit repliziert worden